(von Dorothee Wenner) Vor Einfahrt des „Ladies Special“ stopfen sich Rashmi, Vanita und Yogita auf dem überfüllten Bahnsteig die Schärpen ihrer Saris in die Unterröcke, die Mangalsutra-Ketten stecken sie in den Mund und die Handtaschen halten sie ganz fest vor dem Bauch. „Jetzt kann nichts mehr passieren“, lacht Yogita und stürzt sich ins Gedrängel. In Bombay ist Zugfahren eine äußerst sportliche Angelegenheit und indische Damenbekleidung ist dafür eigentlich nicht geeignet. Doch auch im „Ladies Special“, dem einzigen Frauenzug der Welt, sind Sitzplätze rar. Deshalb ist hier an geordnetes Einsteigen nicht zu denken.
Rashmi, Vanita und Yogita sind drei von etwa 3000 Frauen, für die dieser Zug viel mehr als nur eine Annehmlichkeit bedeutet. Jeden Morgen und Abend stürmen die Freundinnen zu „ihrer“ Bank im letzten Wagen. „Wenn andere Frauen uns zuvorkommen, ist der ganze Tag ruiniert“, erklärt die 25-jährige Softwareprogrammiererin Yogita. „Wir haben ja nie Zeit, uns anderswo als im Zug zu treffen. Von vier Uhr morgens bis zum Schlafengehen sind unsere Tagesabläufe bis auf die Minute verplant.“ Yogita, die Telefonistin Vanita und die Chefsekretärin Rashmi nennen sich „Train Friends“, Zugfreundinnen, eine in Bombay völlig normale Form außerfamiliärer Beziehungen. In der kosmopolitischen Metropole versteht man das Angenehme mit dem Notwendigen zu verbinden, bis zu vierstündiges Pendeln in chronisch überfüllten Zügen gehört in der sechstgrößten Stadt der Welt, deren Einwohnerzahl mal mit 15 Millionen, mal mit 19 Millionen beziffert wird, zum Alltag.
Wie viele andere Zugfreundinnen nutzen Yogita, Rashmi und Vanita die fast zweistündige Fahrt ins Stadtzentrum zum Plaudern, Stricken, Zeitungslesen, Fingernägel lackieren, Singen und sogar zum Einkaufen. Das Angebot im „Ladies Special“ ist ganz auf die weibliche Kundschaft ausgerichtet. Mit lauten Rufen kommt eine Fliegende Händlerin nach der anderen und jede preist lautstark ihre Waren an: Gemüse, Haarspangen, vergoldeten Schmuck, heißen Tee, Kekse, Jasminblüten, Brot, Saris und Stoffe, aus denen die beliebten Salwar-Kameez-Hosenanzüge genäht werden. Sogar eine Schneiderin gehört zum Rundumservice im Frauenzug. Mit ihren Plastiktüten kämpft sie sich von Wagen zu Wagen, um bei ihren Stammkundinnen Maß zu nehmen oder fertige Hosenanzüge abzuliefern. Perfekte Dienstleistungen mitten im Chaos.
Yogita findet das ganz selbstverständlich. Sie ist eben ein echtes „Bombay-Girl“, das nichts mehr mit dem Klischee der unterwürfigen Inderin gemein hat. Sie zählt zur ersten indischen Frauengeneration, die ihr eigenes Geld verdient. Wie bei vielen ihrer Altergenossinnen hat der Beruf auch bei ihr ein neues Selbstbewusstsein geprägt. Die Souveränität, mit der diese jungen Frauen sich fern der familiären Kontrolle durch die Stadt bewegen, hat etwas Revolutionäres. „Unsere Mütter“, sagt Vanita, „können bis heute nicht allein mit dem Zug fahren.“
Tatsächlich ist Zugfahren in Bombay nichts für schwache Nerven. Aus den stets geöffneten Türen der fahrenden Züge hängen Menschentrauben in abenteuerlichen Formationen, viele Passagiere stehen nur mit einem Fuß auf dem Trittbrett. Ganz Waghalsige steigen gelegentlich sogar aufs Zugdach, was lebensgefährlich und natürlich verboten ist. Durchschnittlich vier Tote fordert das Verkehrschaos auf Bombay Schienen pro Tag. „Für Frauen ist das Gedränge doppelt unangenehm“, sagt Rashmi, „mich haben schon oft Männer belästigt, und man kann sich in der Enge kaum dagegen wehren.“ Sämtliche Nahverkehrszüge haben deswegen drei so genannte „Ladies Compartments“, doch auch diese Waggons sind zumindest zur Rushhour so voll, dass man nach westeuropäischen Maßstäben eigentlich weder ein- noch aussteigen kann. Als Anfang der 90er Jahre immer mehr Frauen berufstätig wurden, reagierte die Eisenbahngesellschaft Central Railways (CR) auf den zusätzlichen Bedarf und richtete den „Ladies Special“ ein, der seither zweimal täglich verkehrt. „Wir wallten das Leben der doppelt belasteten Frauen, die oft schon die ganze Hausarbeit erledigt haben, bevor sie zum Zug gehen, wenigstens hier in Bombay etwas angenehmer machen“, sagt CR-Pressesprecher Mukul Marwah.
Die Frauen haben den „Ladies Special“ nicht nur angenommen, sie haben ihn mit weiblicher Kultur ausgefüllt. Wahrscheinlich ist dies der einzige Nahverkehrszug der Welt, in dem Geburtstage der Fahrgäste gefeiert werden. Am Tag, als Rashmi 24 Jahre als wird, bringt sie eine rosa Torte mit, die im Zug aufgeschnitten und auf Papptellerchen an alle Damen in Reichweite verteilt wird. Doch zuvor bekommt das Geburtstagskind ein Ständchen dargeboten, eine indische Version von „Happy Birthday“. Es wird gescherzt und gelacht, nirgendwo könnte die Partystimmung ausgelassener sein als im letzten Wagen des „Ladies Special“.
Dieser Zug – und was alles darin passiert – zählt mit zum Schönsten, was Bombay derzeit zu bieten hat. Jeden Abend und jeden Morgen mit neuen Überraschungen und Geschichten – die allerdings nicht für Männerohren bestimmt sind…