(bc) Toll trieben’s die alten Inder. Wer jetzt glaubt, hier würden die beliebtesten und ungewöhnlichsten Sexpraktiken des Kamasutra, dem „Lehrbuch der Liebe“, vorgestellt, wird leider keine Befriedigung finden. Hier soll dieser Begriff ein wenig erklärt und deutlich gemacht werden, dass das Thema Sex im alten Indien keineswegs ein Tabuthema war, jedoch im heutigen Indien tabuisiert wird. Das Studium des Kamasutra ist eine Lehre für sich, die man in dieser Kürze nur anreissen kann.
Paradox: zieht man sich die typischen indischen Filme der Moderne (Bollywood) rein, so waren bis vor Kurzem einerseits Kußszenen strengstens untersagt, gehörten jedoch Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen zum Kinoalltag. Darüber hinaus sieht man indische Schönheiten als Objekt der Begierde fröhlich im Regen tanzen – mit mehr als deutlichen Körperkonturen. Zur Freude der ungeduldigen Inder sieht die Kußthematik mittlerweile nicht mehr so erzkonservativ aus, gibt es doch hier und da mal ein Küßchen auf den Mund, das von den Zensoren nicht gleich ausgeblendet wird.
Im Jahre 1995/96 drehte die indische Regisseurin Mira Nair („Salaam Bombay“, „Mississippi Masala“) einen Film mit gleichnamigem Titel. Sie wollte verdeutlichen, dass besagtes „Lehrbuch der Liebe“ nicht auf ein „Lehrbuch des Sex“ degradiert wird, wie es vor allem der Westen zu mißinterpretieren vermag. Dieser Film löste in ganz Indien heftige Kontroversen aus und wurde dort zensiert bzw. verboten, obwohl der Streifen eine für die westliche Welt jugendfreie Liebesgeschichte thematisiert.
Die Literatur des alten Indien befasste sich mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Fragestellungen. Abhandlungen und Lehrbücher zu Themen der Astronomie, Geometrie, Phonetik, Metrik, Grammatik, Medizin, Politik, Moral und Erotik wurden gemäß dem Leitsatz: „Wenn etwas wert ist, getan zu werden, so ist es wert, gut getan zu werden“ geschrieben.
Der Begriff „Kamasutra“ setzt sich aus den sanskritischen Worten „Kama“ = Liebe, Lebensgenuss, Angenehmes und „Sutra“ = Lehrbuch, Leitfaden zusammen. Dieses „Lehrbuch der Liebe“ entstand im 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. in Alt-Indien.
Mallanaga Vatsyayana schuf seinerzeit den heute ältesten und berühmtesten Text des Lehrbuches der erotischen Literatur. Er selbst betont am Ende seines Werkes, dass er es in geistiger Konzentration und Keuschheit schuf. Der Mann muss demnach Phantasie gehabt haben, denn das Kamasutra besteht aus 1.250 kürzeren Abschnitten, die sich wiederum in sieben Hauptteile, 36 Kapitel oder 64 größere Abschnitte gliedern.
Purer Sex oder haben sich die Inder dabei was anderes gedacht?
Nach der altindischen Morallehre gibt es drei Lebensziele des Menschen: „Dharma“ (das Gute), „Artha“ (das Nützliche) und „Kama“ (das Angenehme).
Das Kama-sutra hingegen bietet, wie der Name vermuten lässt, eine Anleitung zur Erreichung des dritten Lebenszieles, das seine Erfüllung im Erotischen findet. Dabei wird das Erotische eben nicht als purer Sex, also der Befriedigung der körperlichen Wollust, verstanden, sondern: als Lebenskunst, zu der stets der Aspekt der Selbstbeherrschung zählt.
Das Lehrbuch bewegt sich auf einer sachlichen Ebene und umschreibt das Verhältnis des Kama zu den zwei anderen Lebenszielen (s.o.), den Unterschied der Sexualität bei Frau und Mann, besondere Arten des Umarmens und Küssens, Gedanken über Brautwerbung und Hochzeit, die Situation von Ehefrauen, Möglichkeiten der Annäherung und der Verführung, Verhältnis von Ehemännern zu Ehefrauen anderer Männer, Kunstfertigkeiten und praktische Hinweise für hochstehende Prostituierte, Geheimmittel zur Steigerung der sexuellen Lust – und verschiedene Formen und Stellungen des Geschlechtsverkehrs.
Ein Zeugnis dieser Kultur stellt u.a. der Sonnentempel von Konarak (bei Puri am Golf von Bengalen, Bundesstaat Orissa) dar. Im 13. Jh. erbaut, ist er dem Sonnengott Surya geweiht und berühmt für seine erotischen Skulpturen. Bei einem Besuch im Jahr 1998 sah ich, wie viele indische Besucherinnen und Besucher schüchtern und kichernd ihre Augen verdrehten, europäische Touristen hingegen äusserst überrascht waren, dass ein für sie so tabuisierendes Land damals sehr freizügig war. Der Sonnentempel gehört heute zum Weltkulturerbe der UNESCO.
Ganz selbstverständlich richtet sich das Kamasutra nicht nur an Männer, sondern gleichberechtigt auch an Frauen. Das Kastensystem spielt dabei keine Rolle. Das Kamasutra macht klar, dass eine Bedingung für das Erlernen der Liebeskunst am wichtigsten ist: nämlich mit Rücksicht und Feingefühl auf Neigungen und Veranlagungen des jeweils anderen Geschlechts einzugehen.
In der heutigen Zeit scheint man dies wohl vergessen zu haben.
Foto: (c) Sujit Kumar