In einem Leserbrief greift Ravi Sinha den Artikel von Betty Cherian „Frauen in Indien – zwischen Mitgift und Diplom“ auf. Der Artikel hat Ravi offensichtlich inspiriert, sich Gedanken über das Geschlechterverhältnis in Deutschland und Indien zu machen.
Salut Betty!
Hast du das so erlebt, dass es wirklich noch so krass im Bereich Frauenverachtung in Indien zugeht? Ich dachte immer, dass wäre mehr oder minder nur noch Randerscheinung in Indien, und der Grossteil der Bevölkerung habe mittlerweile begriffen, was Sache ist. Nun ja, vielleicht rührt mein positiveres Bild auch daher, dass meine Familie fast ausschließlich aus Stadtmenschen besteht und gut gebildet ist.
Und als ich Deinen Artikel gelesen habe, kamen mir so die Gedanken über einen Vergleich zwischen Deutschland und Indien. Eines der ersten Themen, dass mir bei Gesprächen mit Deutschen, die Indien kaum kennen, gleich begegnet, ist „und in Indien werden doch die Frauen unterdrückt, gell? !“. Und das Thema, das ich in Indien von Leuten höre, die Deutschland nicht kennen, ist „und in Deutschland werdet ihr Ausländer doch verfolgt, gell? !“
Und da ich in erster Linie Deutscher bin (Sorry, Daddy :-(( ), kann ich nur von der deutschen Seite berichten.(…)
Meinst du, dass die Entwürdigung von Frauen in Indien ein größeres oder ein geringeres Problem als die deutsche Ausländerfeindlichkeit ist? Wie siehst du die Relation? Macht es sich genauso an bestimmten Gegenden, Bevölkerungsschichten, sozialen Brennpunkten fest, ist es ein Rand- oder Massenphänomen? Im Vergleich der beiden Probleme fällt es mir, glaube ich, leichter, den Stellenwert und die Praxis zu begreifen…
Mein persönliches erleben (Family!) in Indien zum Thema Stellung der Frau war, dass es bis vor kurzem noch eine sehr stark geprägte Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern gab und auch immer noch gibt, wo der Mann das Geld beischafft und die Frau den Haushalt macht und die Kinder versorgt. Solange man aber die Arbeitslast gleich verteilt und das Ansehen dieser beiden Bereiche gleich hoch wertet, also beide Bereiche gleich achtet; und auch Leute nicht in dieses Rollenverhalten zwingt, also die Möglichkeit der Geschäftsfrau und des Hausmanns offen ist, habe ich da auch nichts dagegen. (uebrigens sei an dieser stelle ein dank an die Bundesregierung für die Neuregelung des Erziehungsurlaubes gerichtet, das kommt meiner Kinderliebe sehr entgegen!) In Indien ist es da mit der Möglichkeit der Wahl noch nicht so stark gegeben, das ist erst im Kommen. Und zwar leider eher einseitig in Richtung der berufstätigen Frau, und das auch mehr oder minder unfreiwillig, glaube ich.
Das indische Rollenverhalten in der Kernfamilie beginnt nun nämlich aufgrund der gestiegenen Lebensanforderungen und des Geldbedarfs aufzuweichen, was dazu führt, dass Frauen nun oft mit einem zusätzlichem Teilzeitjob eine Doppelbelastung haben, während der Mann noch länger im Büro arbeitet und die Kinder unter der Woche noch seltener sieht.
So war es bei meinem Cousin und seiner Frau, die in Hardwar wohnen, so, dass die Frau, da die beiden Kinder mittlerweile im Teenageralter waren, vormittags als Lehrerin arbeitete, und sie den Rest des Tages mit den Job-Vorbereitungen und dem Haushalt zubrachte. Ihr Mann brachte dagegen seine paar-und-fuenfzig Stunden die Woche auf der Arbeit zu (und war als Entwicklungs-Ingenieur noch gut dran, denn seine Ingenieurskollegen von der Fertigung mussten in den Stressperioden oftmals nachts zur Schichtarbeit oder auch noch sonntags in die Firma). Sehr bedauert wurde dabei neben dem Stress auch, dass das gemeinsame Mittagessen, dass vorher üblich gewesen war, und zu dem mein Cousin immer mit dem Roller von der Firma kam, nun kaum mehr stattfand. Leider ist es umgekehrt noch nicht so weit, dass der Mann den häuslichen Posten und die Kinderhütung übernimmt, da stehen wir in Indien wohl ähnlich wie in der deutschen Gesamtgesellschaft.
Bei den Frauen hatte ich nicht das Gefühl, dass sie vom Mann in diese Arbeit gezwungen würden, sondern dass vielmehr für beide die Arbeitslast entsprechend ähnlich stark gestiegen ist, auf beiden Seiten ähnlich viel Stress und auch Kompromiss- und Dialogbereitschaft zur Arbeitslast und -verteilung da ist. Und dort sehe ich auch eine der großen Stärken der indischen Kultur: nämlich, dass die Familie und Zusammenleben etwas ist, das man gemeinsam aufrecht erhält, indem man zusammen anpackt, auch wenn das beizeiten Arbeit bedeutet. Und man so Freude und Leid der Familie teilt. In Deutschland sehe ich in der Familie viel stärker das Einzelkaempfertum, wo jeder sich in sein Privatleben, den Verein und die Arbeit flüchtet, wenn ihm etwas nicht passt. Und wenn man in der Familie dann Probleme hat, wird das nicht gemeinsam angegangen, sondern ausgefochten. Und falls man sich danach nicht mehr mit seinem Partner versteht, dann lässt man sich halt irgendwann scheiden.
Aber jetzt bin ich in die Rubrik „Familie“ abgerutscht…um am Thema Rollenverteilung fortzusetzen: Wenn ich die sozialen Relationen in Indien betrachte, habe ich oftmals das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen. Wir sehen dort soziokulturell das Deutschland von vor einigen Jahrzehnten, sowohl in der Beziehung Mann-Frau-Umwelt als auch der Beziehung der verschiedenen Gesellschaftsschichten zueinander (was man hier so platt „Kastenwesen“ schimpft, ist der deutschen Geschichte ja nicht unbekannt…da können wir uns ruhig mal an die eigene Nase fassen). Nur dass in Indien die Entwicklungen und Veränderungen um Größenordnungen schneller vonstatten gehen. Und hier sehe ich eine weitere Stärke der indischen Nation, in Deutschland wäre man zu derart tiefgreifenden Wandlungen der Gesellschaft und des täglichen Lebens in so kurzer Zeit gar nicht fähig. Wofür unser Abendland ein Jahrhundert gebraucht hat, wird hier in einem Jahrzehnt vollzogen. Und noch ein weiteres mal finde ich es umso erstaunlicher, dass die indische Gesellschaft noch nicht kollabiert ist, trotz der immens großen kulturellen, ökonomischen, religiösen, politischen, bildungs- und vielen weiteren Unterschieden.(…)
Um noch mal auf den Bereich Frau & Arbeitswelt zurückzukommen, denke ich, dass man in Indien in Sachen Öffnung der Arbeitswelt für Frauen zwar schon entscheidende Schritte und Fortschritte gemacht hat, vor allem in den Großstädten und den Software-Hochburgen, dass wir von einer Gleichstellung aber noch deutlich weiter entfernt sind als in Deutschland. Bei diesem Thema kommt mir, vor allem in bezug auf Deutschland, als auch auf Indien die Frage nach dem Zusammenhang Chance-Pflicht auf. So hat jede Münze zwei Seiten. In Indien kommt mit dem erhöhten Geldbedarf der Familie die Pflicht für die Frau zu einem Job und Einkommen auf. Daraus resultiert die Öffnung der Arbeitswelt mit ihren Chancen. In Deutschland geht mit der Freiheit zum Beruf für die interessierten Frauen immer auch gleich die Pflicht, dann auch für die nicht interessierten, einher. Was momentan meiner Ansicht nach in Deutschland zu einem Spannungsfeld zwischen denen, die wollen und denen, die nicht wollen, führt. Angegangen wird das Problem nun also zur Zeit, indem die Rechte und Vorteile eingefordert werden und die Nachteile und noch existierenden vorteilhaften Ungleichheiten kaschiert werden. Damit das nicht so offen im Raum steht, kann ich aus meiner Erfahrung dazu nur berichten: Als ich während meines Abiturs ein Kindergartenpraktikum machte, wurde mir damals von den dortigen Kindergärtnerinnen geraten: „So gern wir Männer hier haben würden, wählen sie das nicht als Beruf, damit können sie niemals eine Familie ernähren.“ Und auf einen Kindergartenjob, spätere Heirat und umstieg auf Hausmann braucht man da gar nicht erst hoffen. Denn wenn ich mit Frauen über meinen jetzigen Berufsweg als Elektrotechniker spreche(damit kann man eine Familie ernähren), dann höre ich: „Egal, ob immanenter Frauenmangel in der Branche, Geld und Karrieremöglichkeiten – dein Beruf ist mir viel zu stressig, ich mache lieber was im sozialen Bereich, oder mit Kindern.“
Also, wenn ich mir als E-techniker so den Jobmarkt ansehe, frage ich mich schon, wo denn die Frauen sind, die Karrieremöglichkeiten fordern. Es ist wirklich nicht witzig, nur vier Prozent Frauen unter den Kommilitonen zu haben. Und an mangelnder Initiative der Uni oder fehlender Motivation seitens der Wirtschaft liegt es nun echt nicht, eher im Gegenteil. Zum Glück ist die Quote hier in Frankreich, wo ich momentan studiere, deutlich besser. (In Indien haben wir allerdings ähnliche und noch geringere Frauenquoten im Ingenieursbereich. Bei BHEL, wo ich mein Fachpraktikum gemacht habe, gab es nur eine Elektro-Ingenieurin. )
Und gerade wegen dieses Zwiespalts sind wir nun in einem Zustand festgefahren, der „weder hüh‘ noch hott“ heißt. Und ich erwische mich auch immer wieder selbst dabei, darin gefangen zu sein. Zum Beispiel, wenn ich höre, dass eine Freundin, und dazu noch eine Inderin, eine Lehre als Industriemechanikerin in der Autobranche macht. Das sollte doch eigentlich normal sein, und ist es doch auch wieder immer noch nicht. 😉 Es ist halt noch zu selten, dass man sich von alten Vorurteilen abkehrt und einen Beruf entsprechend der nunmehr möglichen Wahlpalette und Nachfrage der Gesellschaft aussucht.
Jedenfalls ist es unabdingbarer Fakt, dass in Indien der Zug für Frauen in Richtung Berufsleben rollt. 😉 ob dies allerdings nun Freiheit oder Pflicht bedeutet, steht auf einem ganz anderen Blatt geschrieben.
Worin die Weichenstellung für die berufstätige Inderin auch sehr deutlich wird: In den Matrimonials (für die unwissenden: Heiratsgesuche) wird immer häufiger nach „Professionals“ gefragt. (Das musste mir erst mal jemand erklären, so von wegen „seit wann ist heiraten ein Beruf???“ – dass das nicht auf das Heiratsgesuch bezogen ist…) der Beruf einer Frau wird also immer stärker gefragt.(…)
In Indien wird (…) direkt mit offenen Karten gespielt: in der Männerspalte sind also sofort die Familie, das Gehalt, der Beruf und das USA-Visum angegeben. Und auf der anderen Seite findet man ausnahmslos nur hübsche, schlanke, junge und anpassungsfähige Frauen, versiert im Haushalt und dynamisch im Beruf.(…)
Was mich aber wirklich an den indischen Frauen stört, ist, dass „Anpassungsfähigkeit“ zu den Grundtugenden gehört, wie ich schon weiter oben erwähnte. Kompromissbereitschaft ist ja schön und wünschenswert, habe ich ja auch. Nur meinem Eindruck nach hörte diese Kompromissbereitschaft dort nicht auf, wo sie aufhören sollte: Am gesunden eigenen Charakter und den eigenen Überzeugungen. Wenn sich die Frau versucht, in allem der Meinung des Ehemannes anzupassen, vor allem auch dann, wenn sie nach einer eigenen Stellungnahme gefragt wird, find ich das nicht sehr interessant. Da kann ich mir auch mit meinem Wandspiegel unterhalten.
Wenn ich eine frisch verheiratete indische Ehefrau WIEDERHOLT frage, was ihre PERSOENLICHE Meinung dazu ist, dass ihr Mann sie nach Kanada mitnehmen will, und sie mir nur antwortet, dass sie sich seiner Lebensführung anpassen will…wenn ein freundliches „bitte“ meines Cousins ausreicht, damit seine Frau eine gefällte Entscheidung fallen lässt und sich völlig umentscheidet…ist das meiner Meinung nach nicht mehr so witzig.
Und wenn meine Cousine mir erklärt, dass sie es nicht fair findet, mehr im Haushalt zu machen, als ihre Brüder, dass sie aber nichts sagt, weil nun mal die Gesellschaft so ist und so bleibt, kann ich gut verstehen, dass sie es leid ist, die Gesellschaft ändern zu wollen. Trotzdem wüsste ich es gerne, wenn sie ungerecht behandelt wird. Ansonsten ändert sich nämlich wirklich nix.
Der Weg bis zur wirklichen Gleichberechtigung ist in Indien noch ein deutliches Stück weiter als in Deutschland und es ist klar, dass dies ein harter Weg ist. In Deutschland sind die Frauen und, glaube ich, auch die Männer schon ein Stück weiter und man erachtet Dinge für selbstverständlich, die in Indien noch revolutionär sind.
Und in dieser Verbindung: was kann Mann tun, dass Benachteiligung der Frau aufhört? Am besten sich dahinterklemmen, dass man selbst nicht Grund des Anstoßes bietet. Ein offenes Ohr haben und bereit sein, seine Haltung fortwährend zu korrigieren. Der Frau die Gleichberechtigung so leicht wie möglich zu machen. Ihren Willen dazu muss sie allerdings selbst bekräftigen, den kann man ihr schlecht aufdrücken. Denn solange Mann sich nicht benachteiligt fühlt, muss Frau schon selbst ihren Weg und ihr Ziel wählen.(…)
Um also nun endlich zusammenzufassen und zum Schlusswort überzugehen: ja, Indien ist im Bereich Emanzipation hinterher. Wenn wir uns allerdings unseren eigenen unvollkommenen Status in Deutschland ansehen, unsere eigene Geschichte und andererseits die Geschwindigkeit, mit der in Indien die Reformen vonstatten gehen, so haben wir meiner Meinung nach keinen Grund, abfällig zu sein, wie ich das unter meinen deutschen Freunden oftmals feststelle. Und was die deutsche Situation angeht, die ich im Moment eher als zerrissen, dröge und festgefahren sehe, sollten wir aufpassen, dass die Inder uns mit ihrer Geschwindigkeit nicht irgendwann in zehn, zwanzig Jahren überholen! Vor allem, da man sich im Bereich Toleranz, Pluralismus und Offenheit für Adaptation durchaus eine Scheibe abschneiden kann.
Insofern kann ich hier nur den Appell machen, vom Flickwerk der Annehmlichkeiten abzulassen und endlich im Bereich Emanzipation auf eine für die Zukunft tragfähiges Konzept durchzudringen. Die Gleichstellung der Geschlechter ist in Deutschland immer noch ein Konstrukt, das zwar gut durchdacht und in der Theorie begriffen, aber noch lange nicht vollständig in die Praxis umgesetzt ist. Und diesbezüglich möchte ich vor allem noch unser altes Rollendenken und die Gleichstellung in Pflichten ansprechen. Ich bin es leid mich vor Männern wie Frauen immer wieder rechtfertigen zu sollen, dass ich NICHT schwul bin, OBWOHL ich kinderlieb bin, gerne koche und haushalte und so „seltsame“ Hobbys wie Reiten und Tanzen habe. Ich bin es leid mich mit dem Gedanken abzufinden, dass es später wohl doch nichts mit meinem Erziehungsurlaub wird (den die Regierung so mühsam für mich durchgerungen hat), weil sich einfach keine Frau findet, die einen ähnlichen Wunsch nach Karriere wie ich hat und auch bereit ist, einen Beruf zu wählen, mit dem man genauso gut eine Familie ernähren kann.
Und um das ganze mal etwas provokanter auszudrücken (auf dass vielleicht jemand einen Folgeartikel schreibt;-) ): Wenn wir noch lang in diesem Reformstau verharren, dann sehe ich bald schon eine neue Gesellschaftsrevolution rollen, wo es nicht mehr nur heißt „hier hat die Frau die Hosen an“, sondern „hier hat der Mann den Rock an“!
Es gibt meiner Meinung nach immer mehr Männer, die in einem emanzipatorischen Elternhaus aufgewachsen sind und Emanzipation und Gleichstellung stärker verinnerlicht haben, als die Gesamtgesellschaft akzeptieren kann. Und da tun vielleicht viele Unwissende etwas mit „wachsender Gay-Pride-Bewegung“ ab, was schon das Anfangszeichen dieser neuen Welle ist; signalisiert von der neuen Gesellschaft, den alten Mustern entwachsen, der man so lange erzählte, dass sie nicht passt, bis sie wirklich nicht mehr passte (um eine parallele zu „Andorra“ von Max Frisch zu ziehen…).
Foto: (c) Ravi Sinha