(Text der Friedrich-Ebert-Stiftung) Über 250 Teilnehmer, darunter viele in Deutschland lebende Inder, nahmen am 25. September 2003 das Angebot wahr, im Berliner Haus der FES über „Hindu-Nationalismus – Eine Gefahr für die Demokratie?“ zu diskutieren. In einem einführenden Vortrag wies der Bundestagsabgeordnete Johannes Pflug auf das „traumatische Erlebnis“ der Teilung Britisch Indiens in Indien und Pakistan 1947 hin. Indien sollte nicht das Land der Hindus sondern aller Inder sein, und daher gaben ihm die Verfassungsväter eine säkulare Verfassung. Die „stabile Demokratie“ Indiens sei „nicht so leicht zu erschüttern“, betonte der Vorsitzende der Deutsch-Südasiatischen Parlamentariergruppe. Der wachsende Einfluß hindu-nationalistischer Kräfte auf Politik und Gesellschaft und insbesondere die blutigen Ausschreitungen gegen Muslime im Bundesstaat Gujarat Anfang 2002 böten dennoch Grund zu Beunruhigung, so Pflug.
In der anschließenden, von der Journalistin Navina Sundaram moderierten, Podiumsdiskussion erörterten Expertinnen und Experten aus Indien die Ursachen des Hindu-Nationalismus und mögliche Gegenmaßnahmen. Der Journalist Dilip D’Souza, spezialisiert auf Fragen sozialer Gerechtigkeit und Demokratie, erklärte den Zulauf der Hindu-Nationalisten durch die Enttäuschung vieler Inder von den säkularen Parteien, die in zahlreiche Korruptionsfälle verstrickt seien und es nicht geschafft hätten, den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung gerecht zu werden. In der Hinwendung zum Hindu-Nationalismus sehe er eine Gefahr für die indische säkulare Demokratie.
Der in Poona lebende deutsche Journalist Rainer Hörig stellte die von den Hindu-Nationalisten oft propagierte Einheit aller Hindus in Frage. Insbesondere die Mitglieder unterer Kasten und die Anhänger von ländlichen „Grenzreligionen“ würden zwar mitunter geschickt vereinnahmt, doch würden ihre Forderungen von den Hindu-Nationalisten nicht wirklich berücksichtigt. Die Radikalisierung innerhalb der indischen Mittelschicht, die sich analog zu den Hindus auch bei den Muslimen beobachten ließe, sei auch auf die durch die Globalisierung verstärkte Identitätssuche der jungen Generationen zurückzuführen. Hin- und hergerissen zwischen Videoclips und Tempelritualen entschieden sich viele für die vermeintlich traditionsbewahrenden Hindu-Nationalisten. Dabei verkehrten diese wesentliche Grundzüge des Hinduismus ins Gegenteil: Die althergebrachte Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Religionen werde von den Hindu-Nationalisten als Schwäche angesehen, daher propagierten sie einen „starken, militanten Hinduismus“.
Der Hindu-Nationalismus dürfe daher nicht mit dem Hinduismus gleichgesetzt werden, betonte die FES-Mitarbeiterin in Delhi Damyanty Sridharan. Sie verwahrte sich gegen eine Spaltung der indischen Gesellschaft in Muslime und Hindus und betonte vielmehr deren Gemeinsamkeiten: So hätten beispielsweise Muslime im südindischen Kerala weit mehr mit ihren hinduistischen Nachbarn gemein als mit den Muslimen in Pakistan. Sie forderte ein Bündnis von zivilgesellschaftlichen Kräften mit säkularen demokratischen Parteien und den Medien, um sich gemeinsam der Gefahr des Hindu-Nationalismus zu stellen.
Gegen ein Verbot extremistischer Gruppierungen sprach sich die Frauenrechtlerin Sonal Shukla aus. Vielmehr solle man in der Öffentlichkeit die „guten Elemente und die Offenheit des Hinduismus“ betonen, ergänzte sie. So könne man zeigen, dass die Hindu-Nationalisten die Religion lediglich für ihre Ziele instrumentalisierten. Trotz der unterschiedlichen Auffassungen der Expertinnen und Experten brachte der Journalist D’Souza deren Meinungen auf einen Nenner, als er zu Bedenken gab, dass der Schlüssel zum friedlichen Zusammenleben im Respekt der verschiedenen Gruppen untereinander liege.
In den anschließenden Workshops wurde die Bandbreite der Positionen zum Thema deutlich: Die einen hielten die Bewegung der Hindu-Nationalisten für ein normales Phänomen im politisch-gesellschaftlichen Spektrum Indiens, bei dem lediglich einzelne Auswüchse besorgniserregend seien, andere sprachen von „Hindu-Faschismus“ und bemühten Vergleiche mit dem Nationalsozialismus. Die unterschiedlichen Auffassungen und das weit gefächerte Meinungsspektrum weisen auf die Brisanz des Themas und verstärkten Diskussionsbedarf hin.