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„Lied der Dämmerung“ von S. D. Shangvi

(von Maria Moritz) Eine gute Voraussetzung um S. D. Shangvis Debutroman „Das Lied der Dämmerung“ genießen zu können ist eine tiefe Leidenschaft für das indische Bollywood-Kino. Hier wie dort geht es um die ganz großen Themen des Lebens, wie Schicksal, Liebe, Tod und Freundschaft. Hier wie dort wird das Schicksal außergewöhnlicher Figuren mit großer Dramatik und prächtiger Ausstattung erzählt.

Diese Nähe zum überbordenden indischen Mainstreamkino stellt sich allerdings nicht nur über die Figuren, sondern auch über den visuellen, sinnlichen Erzählstil Shangvis her. Geschwängert von Metaphern und Vergleichen explodiert er in einer Fülle von Farben, Formen und Gerüchen und lässt den Leser die Geschichte dadurch fast sinnlich nacherleben. Dieser Eindruck ist so stark, dass ich beim Lesen am liebsten meine Augen geschlossen hätte, um mich diesem Rausch sinnlicher Eindrücke ganz hingeben zu können. Ich hätte natürlich auch meinen Liebsten bitten können mir das Buch vorzulesen….die wahrscheinlich beste Form des Genusses, da man sich augenblicklich wie ein kleines Kind fühlen darf, dem ein Märchen vorgelesen wird.

Wie bei einem Märchen begann ich augenblicklich zu Träumen von Anuradha, die so schön ist, dass sie zu Sonetten anregt und die mit einem magischen Gesang begabt ist, der zu heilen vermag. Ich stellte mir ihren schönen Gatten, den Arzt Vardhmaan bildlich vor, der gleich einem Märchenerzähler zu fabulieren weiß. Und ich sehe vor meinem inneren Auge Divi bai, die hässliche und überaus böse Schwiegermutter Anuradhas, deren Zauber die junge Familie ins Unglück stürzt. Am ungewöhnlichsten und schönsten ist aber Anuradhas Cousine Nandini, die die femme fatale gibt. Ausgestattet mit hinreißender Schönheit, einem überragenden künstlerischen Talent und einer Unverfrorenheit, die ans Dreiste grenzt, erobert sie die Kunstszene Bombays im Sturm. Dabei setzt sie neben ihrer spitzen Zunge auch ihre überaus erotische Ausstrahlung ein, um den weltberühmten Maler Khalil Muratta auf sich aufmerksam zu machen: „Sie kam barfuß. Mit einem angezündeten Bidi in der rechten Hand, in einem cremefarbenen hauchdünnen Kleid, am Rücken so tief ausgeschnitten, dass dieser sich den gaffenden Augen der Salongäste bis hinunter zum Steißbein darbot. Ihre Haut schimmerte, und ihre Frisur war die einer kultivierten Vagabundin, und wenn Nandini lachte, durchrieselten ihren Körper kleine Wellen, die vermuten ließen, eine Göttin in ihrem Inneren erlebe soeben einen sexuellen Höhepunkt.“ So wird Nandini beschrieben kurz bevor sie in besagtem Salon auf Virginia Woolf trifft, welche ihre Unverfrorenheit nicht besonders schätzt und auf M.K. Gandhi, einen jungen Freiheitskämpfer, dessen Dhoti Nandini als überaus sexy Kleidungsstück lobt. Überhaupt Sex. Während er in Bollywoodfilmen ausgespart wird und sich die Paare allenfalls einen verschämten Wangenkuss erlauben, geht es diesbezüglich z.T. heftig zur Sache. Sowohl gleichgeschlechtlicher als auch ehelicher Sex werden vom Autor mit genüsslicher Direktheit vorgeführt. Das ist insofern erstaunlich, als mit dieser Thematik nicht nur in indischen Bollywoodfilmen, sondern auch innerhalb der indischen Gesellschaft wenig offen umgegangen wird. Homosexualität wird sogar in die Nähe krimineller Aktivitäten gerückt, die es Auszumerzen gilt. Insofern bricht Shangvi mit seinen expliziten Beschreibungen ein gesellschaftliches Tabu. Trotzdem oder vielleicht einfach, weil dieses Buch extrem unterhaltsam ist, hat es in Indien seit seinem Erscheinen Bestsellerstatus erlangt und in England wurde Shangvi dafür der Betty Task Award verliehen.

Nachdem ich ungefähr die Hälfte des Romans verschlungen hatte, betäubt von all der Farbenpracht und Exotik, die mich bezauberte, wachte ich auf und rieb mir die Augen wie nach einem langen Traum. Ich überlegte, ob das, was mich an diesem Roman so fasziniert hatte, nicht auch dasselbe war, was mich jetzt zunehmend störte – die überwältigende Bildsprache. Wie nach dem Genuß zu vieler Bollywoodfilme mit ihrer reichen Ausstattung, ihrer Dramatik und ihren ständigen Sensationen, fühlte ich mich etwas ermüdet durch den Metaphernreichtum und die Detailsucht des Autors, sowie die ständigen Schicksalsschläge, die besonders den zweiten Teil des Buches beherrschen. Sie erinnern wieder deutlich an die Nähe dieses Buches zu Bollywoodfilmen und Seifenopern. Soviel Schicksal war nie. Aber wahrscheinlich ist bei allen Versuchen des Autors den Roman möglichst hip und unkonventionell zu gestalten, gerade das das eindeutig indische, um nicht zu sagen traditionelle Motiv des Romans: der Glaube an ein übermächtiges Schicksal, dem sich die Figuren zwar in den Weg stellen können, dass aber stets die Oberhand behält. Das Schicksal, nicht die Figuren ist Hauptakteur des Romans. Die Detailsucht und der Metaphernreichtum können stören – oder aber helfen abzutauchen aus dieser grauen Novemberwelt, für die Dauer eines Romans, und einem, ähnlich wie ein guter Bollywoodfilm, die Stunden versüßen.

Interview mit S.D. Shangvi zu „Das Lied der Dämmerung“

 
Dein Buch beginnt mit einem Zitat aus Heinrich Heines „Loreley“, das in Deutschland nicht nur als Gedicht, sondern auch in einer Vertonung als Lied sehr bekannt ist. Offensichtlich bewunderst du deutsche Literatur und Musik einer bestimmten Epoche sehr, denn Komponisten, wie Schumann, Schubert oder Bach werden in deinem Buch häufig erwähnt. Woher stammt diese Faszination für deutsche Musik und Literatur?

Ich liebe Literatur und Musik generell und diese Liebe überschreitet alle nationalen Grenzen. An der deutschen Musik schätze und bewundere ich besonders die Präzision der Komposition. Rilke hatte einen großen Einfluss auf meine literarische Entwicklung. Er ist einer meiner Lieblingsschriftsteller. Während meiner Zeit an der Universität lernte ich viele seiner Gedichte auswendig und rezitierte sie vor meinen Liebsten.


Ja, dies sind alles europäische Musiker und ich mag sie wegen ihrer Musik. Die Tatsache, dass sie Europäer oder Deutsche oder Österreicher waren, ist nicht der Grund für meine Bewunderung. Der Grund ist ihre Kunst. Ich weiß, dass ihr künstlerisches Anliegen übergreifend ist und auch wenn sie Afrikaner, Südamerikaner oder sonst was gewesen wären – Ihre Kunst wäre immer noch außergewöhnlich. Im Grunde sind solche Einstufungen unwichtig für mich.

Dein Schreibstil ist sehr visuell und sinnlich. Beim Lesen deines Buches hätte ich am Liebsten die Augen geschlossen, sodass all die Farben, Gerüche, Bilder und Formen in meinem Kopf hätten explodieren können. Das hätte mich natürlich beim Lesen gehindert. Auf Grund dieser Leseerfahrung würde ich empfehlen den Roman mit einem Audiobook zu genießen. Was natürlich nicht so aufregend ist wie wenn jemand einem vorliest. Hattest du jemanden in deiner Kindheit, der dir Märchen vorgelesen hat?

Das visuelle Element war mir in diesem Roman besonders wichtig, denn dieses Element entstand durch den Einfluss, den mein Großvater auf mich hatte. Ausgestattet mit psychologischem Wissen und der Fähigkeit Träume zu deuten, kam er von einem Studienaufenthalt aus der Schweiz wieder. Im Folgenden machte er Geschichtenerzähler aus uns. Während in anderen Familien die Erwachsenen Geschichten erzählen, brachte er uns Kinder dazu zu erzählen. Er disziplinierte unser Unterbewusstsein und unsere Fantasie. Er pflegte zu sagen: Ok, du hast das gesehen, aber was geschah dann? Erinnerst du dich an die Farbe? Was hatte sie an? Wohin hat sie geschaut? Wie war das Tier? Wie war die Textur? Solernten wir schon sehr früh unsere Fantasie zu benutzen. Ich hatte da großes Glück. Wenn ich jetzt zurückblicke, denke ich, dass das eine außerordentliche Schulung für das Geschichtenerzählen war. Er ermunterte uns dazu das Erzählen dem einfachen Bild vorzuziehen, was im Grunde das ist, worum es eben bei Literatur geht.

Dein Roman ist nicht nur sehr visuell, sondern auch sehr sinnlich und sehr erotisch. Welchem der fünf Sinne vertraust du am meisten?

Ich hoffe allen gleich. Es war spannend für mich herauszufinden, wie Menschen ihre Sexualität gestalten. Dieses Thema ist mir so wichtig, dass ich meinen dritten Master in Sexualität an der San Francisco State University gemacht hätte, wenn dieses Buch nicht zu Stande gekommen wäre. So konnte ich die Thematik literarisch verarbeiten. Was bedeutet Geschlecht? Was Sexualität? Für mich sind diese Fragen die eigentliche Crux in meinem Buch. Auch wenn ich einfach nur eine Landschaft beschreibe, enthält diese Beschreibung immer eine unterschwellige erotische Spannung, weil mein Blick eben besonders auf Geschlechtlichkeit, sexuelles Bewusstsein und so weiter gerichtet ist. Dieses Thema ist deshalb so schwierig, weil es eben nicht eindeutig empirisch zu überprüfen ist. Wo beginnt und endet Sexualität? Was bedeutet es hetero zu sein? Was heißt es bisexuell zu sein? Ich denke generell ist es notwendig all diese Kategorien zu überwinden. Ich hoffe die zukünftigen Entwicklungen gehen in diese Richtungen.

Die Figuren des Romans sind wie Stars einer Seifenoper oder eines Bollywoodfilms. „Larger than Life“. Die meisten von ihnen verfügen über übernatürliche Kräfte. Wie entwickelst du deine Figuren? Verwendest du dazu Beobachtungen aus deiner näheren Umgebung oder sind deine Figuren ausschließlich erfunden?

Als Anmerkung zu deiner Frage muß ich sagen, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Figuren, wirklich „larger than life“ sind, oder ob sie nicht einfach so groß wie das Leben selbst sind. Sie ertragen die außerordentliche Tragik, die in die Geschichte einbricht, genauso wie sie die erotische Spannung genießen können. Ich denke es wäre richtig zu sagen, dass ich Charakteristika von Menschen verwende, die ich beobachtet habe, aber meist sind das nur Kleinigkeiten. Viel wertvoller finde ich es hingegen über einen längeren Zeitraum mit den Figuren zu leben und dabei ihr Innenleben zu erforschen. Auch jetzt noch weiß ich genau, welches Bild, welche Fotografie Nandini gefallen würde, obwohl sie natürlich ein Produkt meiner Fantasie ist.

Und du meinst nicht, dass die Figuren „larger than life“ sind? Alle Figuren sind so außergewöhnlich gut oder böse oder schön. Vielleicht könnte man statt „larger than life“ sagen, dass alle Figuren sehr extrem sind, auch in ihrer Exzentrität.

Mich interessiert vor allem, was einen Menschen von der breiten Masse unterscheidet und welche Eigenschaften es ihm ermöglichen überragend zu sein. Ich mag es, gerade diese Eigenschaften ins Zentrum meiner Beobachtungen zu stellen, obwohl die Figuren an sich vollkommen gewöhnliche Persönlichkeiten sind. Ich denke nicht, dass alle Figuren den Kategorien gut oder böse zuzuordnen sind. Ich mag die Vieldeutigkeit und glaube, dass das unsere eigentliche Natur ist.

Meine Frage zielt nicht darauf ab, ob die Figuren in bestimmte Kategorien passen, sondern ich fragte vielmehr nach der Qualität ihrer Persönlichkeit. Es gibt nicht eine Figur in deinem Roman, die mittelmäßig ist. Sogar Pallavi ist extrem in ihrer Freundschaft, ihrer Fähigkeit sich aufzuopfern und zu leiden. Du bevorzugst anscheinend extreme Persönlichkeiten.

Ich bin sicher sie alle könnten auch ganz gewöhnlich sein, aber ich betone eben ihre extremen Seiten, die scharfen Konturen und ihre ungewöhnlichen Kanten. Ich mag das!

Welche der Frauen ist „Loreley?“ Anuradha oder Nandini?

Ich würde sagen Nandini. Sie würde jemanden verführen und ins Elend stürzen.

Und denjenigen unglücklich machen?

Ich weiß nicht, ob sie denjenigen unglücklicher machen würde, als er es selber gewollt hätte,
als Preis für seine Faszination und Bewunderung ihr gegenüber.

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