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Von Adrian Nayyar. Was neben Ayurveda und Katakhali schon längst als eines der Aushängeschilder Keralas in Indien gilt, findet durch den Indienboom auch hierzulande immer mehr Interessenten – das Kalaripayatt. Kalaripayatt ist vor allem im Süden Indiens verbreitet und setzt sich aus den Wörtern Kalari (Malayalam: Schule) und Payattuka (Malayalam: anstrengen, kämpfen, üben) zusammen.
Die Geschichte des Kalaripayatt reicht weit zurück, es gilt als eine der ältesten Kampfsportarten der Welt. Es wird vermutet, dass während der großen Schlachten zwischen den südindischen Königreichen der Cheras und Cholas im 11. Jahrhundert sich die damaligen südindischen Kampfstile mit nördlichen Stilrichtungen vermischt haben; die daraus entstandene Form ist das Kalaripayatt wie man es heute vorfindet.
Da die Ausübung während der britischen Kolonialherrschaft strengstens verboten war, waren nur einige wenige bereit die alten Traditionen im Untergrund am Leben zu erhalten. Erst Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts kam in Südindien ein allmähliches Interesse an den alten Lehren auf. Verstärkt durch die enorme Nachfrage nach internationalem Kampfsport, der seit den 70er Jahren stetig anwächst, feiert das Kalaripayatt nun endlich sein Revival.
Schon seit einigen Jahren prügeln sich die Filmstars in diversen südindischen Filmen und selbst in einigen wenigen Hindiproduktionen ganz im Stile des Kalaripayatts, so dass man auch international zunehmend an diesem „neuartigen“ Kampfsport Gefallen findet.
Tatsächlich hat Kalaripayatt schon vor langer Zeit nicht nur die Kultur seiner Heimat Kerala, sondern auch die benachbarter Länder wie China und dessen Shaolin Kampfkunst und Tradition beeinflusst.
Heutzutage findet man zwei große Stile des Kalaripayatts vor: den nördlichen Vadakkan-Stil, der in Nord- und Zentralkerala praktiziert wird und den südlichen Thekkan-Stil, der in den südwestlichen Distrikten Tamil Nadus gelehrt wird. Nur im Grenzgebiet zwischen diesen beiden Bundesstaaten kam es zu einer Mischung aus beiden Stilrichtungen, aus der wiederum selbst weitere Techniken hervorgegangen sind.
Die nördliche Variante zeichnet sich vor allem durch hohe Sprünge und Tritte aus. Bei Schlägen und Blöcken werden die Arme beinahe komplett ausgestreckt, die Deckung erfolgt in tiefer Position und Ausfallschritte sind sehr weit. Ursprünglich wurde das nördliche Kalaripayatt von der Kriegerkaste Keralas, den Nair bzw. Nayar ausgeübt. Zur Heilung der vielen Knochenbrüche und Verletzungen, die die Kämpfer dabei erlitten, wurde die ayurvedische Medizin Keralas angewendet. Die Meister des Kampfes wurden so auch Meister der Medizin.
Anders als bei fernöstlichen Dojos, dient der Kalari, der sich beim nördlichen Stil in einem Gebäude befindet, so auch noch heutzutage nicht nur als Kampfplatz, sondern auch als Sprechzimmer des Meisters, der zugleich auch den Dorfarzt darstellt. Da der nördliche Stil traditionell relativ geheim gehalten wurde, fand und findet teilweise auch heute nochTraining nur nachts statt.
Der südliche Stil hingegen wird in den Dörfern an einem zentralen Ort, im Freien und am Tag ausgeführt. Kennzeichen der „tamilischen Variante“ sind viele kreisartige Bewegungen, wenig Sprünge dafür umso mehr kräftige und härtere Schläge. Der südliche Stil erscheint in seiner Ausführung weniger grazil, hier wird eher Wert auf eine solide Stellung des Kämpfers gelegt, die Schläge sind direkter, die Kämpfe wirken rauer.
Auch die Meister des Thekkans, die Gurukals, sind zugleich Meister auf medizinischer Ebene. Ihr Wissen basiert jedoch nicht auf dem Ayurveda, sondern dem Siddha Vaidyam, der alten, dravidischen Medizin.
Egal ob im Norden oder im Süden, die herkömmliche Laufbahn eines Kalaripayatt-Schülers beginnt in der Regel im Alter von sieben Jahren, die Ausbildung bis hin zum Meistertitel Gurukal, ist dabei in vier Phasen unterteilt.
Der Lehre beginnt mit dem Meithari (Tamil: mei=Körper). Durch bestimmte Dehnungsübungen werden die untrainierten Körper der Schüler flexibler, die Anwendung von Ölmassagen aus dem Ayurveda macht sie zusätzlich geschmeidig. Erst wenn der Schüler über erforderliche Konditionen verfügt und ihn der Gurukal physisch als tauglich befindet, kann mit dem eigentlichen Kampftraining begonnen werden, dem Kolthari. Der Schüler übt sich erstmals im Umgang mit diversen, hölzernen Waffen. Wenn er diese vollkommen beherrscht, öffnet sich für ihn ein Waffenarsenal aus Metal – der Startschuss zum „Kriegstraining“, dem Ankathari.
Da die Körper der Kämpfer anders als beim Fechten von keinerlei Panzerung geschützt sind, sondern lediglich in Lendentücher gehüllt sind, kann das Hantieren mit den scharfen Waffen zu sehr schweren bzw. tödlichen Verletzungen führen. Einem Kalaripayatt-Schüler wird daher ab diesem Zeitpunkt der Ausbildung äußerste Konzentration und Selbstbeherrschung abverlangt.
Am Ende des Ankathari spezialisiert sich jeder Schüler in der Regel auf eine bestimmte Waffe seiner Wahl, um durch langjähriges Training daran zum Meister zu werden. Als Waffe der allergrößten Gurukals gilt das Urumi oder Chuttuval, ein langes, elastisches Schwert. Da hier jede Bewegung des Körpers zu 100% stimmen muss, wagen sich nur absolute Profis mit langjähriger Erfahrung an diesen Gegenstand.
Die letzte Station der Ausbildung stellt der Kampf mit bloßer Hand da. Im Verumkai werden verschiedene Schläge und Blöcke gelehrt, doch nur demjenigen Schüler dem der Gurukal absolutes Vertrauen schenkt, wird in das große Geheimnis des Marmam, eingeweiht. Es handelt sich hierbei um das Wissen der genauen Lage der vitalen Punkte des menschlichen Körpers. Schon leichte Schläge auf diese Stellen können einen Menschen lähmen oder sogar töten.
Es wäre schön wenn diese großartige Kampfkunst nun endlich auch außerhalb der Grenzen Keralas und Indiens bekannt wird. Zu hoffen bleibt jedoch, dass mit den Geheimnissen dieser Kunst auch trotz kommerzieller Verlockungen weiterhin so behutsam umgegangen wird, so dass Kalaripayatt auch in Zukunft den Menschen hilft und nicht schadet.