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Radhakrishnan: Innerer Dialog mit dem Weiblichen

K.S. Radhakrishnan ist ein indischer Bildhauer von internationalem Ruf. In seinem Werk finden sich zwei Figuren, die immer wieder kehren: Musui und Maiya. Bei der Kreation der beiden kam er ganz ohne geschlechtertypische Rollen aus. Ein Gespräch mit dem Künstler von Edith Truninger.

Der Rauschebart ist so etwas wie sein Markenzeichen. Der Bart ist inzwischen ergraut, doch die Güte im Gesicht bleibt. K.S. Radhakrishnan ist einer der renommiertesten indischen Plastiker der Gegenwart. Doch der gemütliche Mann Mitte fünfzig kommt ganz ohne Starallüren aus. In seinem Büro in Delhi bietet er uns sofort Tee an, den köstlichen indischen Chai, und lehnt sich gemütlich in seinem Stuhl zurück. Im Vorzimmer mussten wir uns zuerst durch einen richtigen «Wald» voller Bronze-Figuren kämpfen. Die Plastiken sind filigran, als Schweizerin erinnern sie mich an Giacometti.

Zwei Figuren prägen K.S. Radhakrishnans Werk: Er nennt sie Musui und Maiya – Maiya ist die Frau, und Musui der Mann – sehr vereinfacht gesagt. Der Schöpfer der Kreaturen kann mit dieser Kategorisierung nicht viel anfangen. «In jedem von uns steckt eine Maiya», ist er überzeugt. Und genauso stecke auch in jedem Mensch ein Musui. Er war gerade mal achtzehn Jahre alt, als Musui in sein Leben trat. Er hat diese Geschichte sicher schon oft erzählen müssen. Doch er tut es immer noch gern, das ist ihm anzumerken: Der Mann, nach dessen Vorbild später Musui entstand, war ein Bettler in einem kleinen Stammesdorf nahe Santiniketan, Ostindien. Radhakrishnan besass ein Motorrad, und so lud er ihn spontan ein, auf dem Hintersitz Platz zu nehmen. Gemeinsam fuhren sie in Radhakrishnans Atelier, wo der junge Mann ihm Modell stand. Der Künstler entlöhnte sein Modell nach getaner Arbeit mit ein paar Münzen. Als sie sich später wieder trafen, hatte der junge Mann sich den Kopf rasiert – mit dem Geld, das Radhakrishnan ihm gegeben hatte. Das berührte den Künstler sehr. «Er hatte eine natürliche Eleganz und einen Ausdruck von Unschuld und Ehrlichkeit. Diese Eigenschaften erleuchteten ihn von innen», lässt Radhakrishnan sich später in der Zeitung «The Hindu» zitieren. Dieses Schlüsselerlebnis prägte sein weiteres künstlerisches Schaffen. Auch die berühmte Plastik eines Rikschaziehers entsteht später nach Musuis Vorbild. Radhakrishnan: «Musui war kein Rikschazieher, aber er war eine perfekte menschliche Existenz, der in sich selbst ruht und das Leben leicht nimmt», so Radhakrishnan.

Figuren als alter Ego

Diese Leichtfüssigkeit, die er an Musui beschreibt, ist auch beim Künstler selbst wieder zu finden. Man könnte es auch Sanftheit nennen. Der sanfte Künstler, der mit einem so harten Material wie Bronze arbeitet. Für ihn sei dieses Erlebnis die erste Begegnung mit seinem männlichen Selbst gewesen. «Zärtlichkeit ist eine Stärke in einem Mann», so Radhakrishnan. In den dreissig Jahren an der Seite von Musui ist dieser so etwas wie sein alter Ego geworden. Doch fast noch liebevoller spricht er von der anderen Figur, Maiya, welche in den 90er Jahren entstand und Musui’s Gegenstück ist. Denn zunehmend beschlich ihn das Gefühl, dass Musui irgendwie unvollständig ist. Und so schuf er Maiya. Maiya ist weise und unabhängig im Geist. Von Beruf ist sie Schriftstellerin. Maiya ist so etwas wie die weibliche Seite von Radhakrishnan. «Oft führe ich innere Dialoge mit der Maiya in mir», lacht er.

Spielerisches Selbstverständnis

Der Künstler lässt seine zwei Hauptdarsteller in verschiedene Rollen und Existenzen schlüpfen: Musui ist mal der Mullah, mal der Jesus am Kreuz, Maiya wird Säule, Windmühle, Engel oder Pfeil und Bogen. Ein bisschen scheint es fast so, als wäre Maiya die wandelbarere der zwei Figuren. «Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Musui als Pfeil und Bogen zu machen», sagt Radhakrishnan. «Pfeil und Bogen muss für mich Maiya sein». Radhakrishnans Rollenverständnis ist weit weg von irgendwelchen Geschlechterkonventionen. Die beiden Figuren gehören zusammen, sind eins und doch verschieden. Gemeinsam ist ihnen aber das Spielerische. «Beide sind fähig, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen», sagt er. Und der Respekt füreinander sei beiden enorm wichtig. Ausserhalb Indiens hat Radhakrishnan vor allem in Frankreich grossen Erfolg mit seinen Skulpturen. Alljährlich zieht es ihn in ein kleines französisches Dorf, um sich in Ruhe seiner Kunst zu widmen. «Und Sie, sprechen Sie auch manchmal mit ihrer männliche Seite?», fragt er unvermittelt. Radhakrishnans Werk ist eine Einladung, das Leben spielerisch zu betrachten – und das eigene Rollenverständnis gründlich zu überdenken.

Foto: KSRadhakrishnan / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)
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