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Eine Einführung in das indische Kastenwesen

Eine heilige Zeremonie in
Rishikesh. Foto: (c) Marléne Görtler

Von Dr. Jürgen Stein. Das indische Kastenwesen wurde in der wissenschaftlichen Debatte sehr lange als eine auf das engste mit dem Hinduismus verknüpfte Gesellschaftsform gesehen. Man ging davon aus, dass das Kastenwesen nur auf der Grundlage eines brahmanisch-hinduistischen Normenkodexes entstehen und sich bis heute behaupten konnte, während umgekehrt der Hinduismus nur im Rahmen einer in Kasten organisierten Gesellschaft als gelebte Religion überhaupt praktizierbar wäre.

1. Kaste – Varna oder jati?
Dieses von westlichen Forschern geprägte Kastenbild war allerdings sehr einseitig, da es sich überwiegend an den Auskünften brahmanischer Gelehrter sowie an indologischen Studien über die Sanskrit-Literatur orientierte. Jedoch führte es dazu, dass eine aus brahmanischen Kreisen stammende Gesellschaftsideologie weitgehend übernommen wurde, die eine klare Hierarchie von nach Berufen unterschiedenen Gruppen innerhalb der indischen Gesellschaft vorsieht, und zwar mit den Brahmanen, also dem Geistesadel bzw. den Priestern, an der Spitze, gefolgt von Kshatriyas (Aristokratie und Krieger), Vaishyas (Händler und auch Bauern) sowie Shudras, zu denen Diener, Handwerker und erneut bäuerliche Gruppen gerechnet werden. Außerhalb bzw. unterhalb dieses Systems existiert noch eine fünfte Kategorie, zu der bestimmte Handwerker, wie Gerber oder Schuster, oder z. B. Latrinenreiniger gehören. Die Hierarchie ergibt sich nach dieser Ideologie aufgrund der unterschiedlichen (rituellen) Reinheit bzw. Unreinheit der verschiedenen Berufe.
Die genannten vier Gruppen wurden in der Regel als die vier Kasten bezeichnet, die Angehörigen der fünften Gruppe als „Kastenlose“. Diese Bezeichnung ist jedoch nicht zweckmäßig, da sie die indogenen Begriffe varna und jati vermischt. Bei den beschriebenen Kategorien handelt es sich um varna (ursprünglich „Farbe“), im Deutschen am besten mit Stand übersetzt. Somit sind die Angehörigen der fünften Kategorie avarna, also „Nicht zu einem varna Gehörige“. Den Begriff der Kaste sollte man dagegen zweckmäßiger für das verwenden, was im indischen Kontext jati genannt wird, nämlich weitgehend endogame, d.h. durch alleinige Heirat innerhalb der eigenen Gruppe sich auszeichnende soziale Gruppen, denen man qua Geburt – jati bedeutet Geburt – angehört. Diese Kasten bzw. jati lassen sich zum Teil den vier Ständen zuordnen, häufig ist eine solche Zuordnung aber auch umstritten. Die außerhalb der varna-Ordnung stehende Gesellschaftsschicht ist nun keineswegs kastenlos, da sie selbst wieder in zahllose Kasten – also jati – unterteilt ist, die in der Regel in deutlicher Konkurrenz zueinander stehen. Dass eine Unterscheidung zwischen varna und jati dringend notwendig ist, hat sich in der empirischen Sozialforschung seit der Mitte des 20. Jh. gezeigt. Dort wurden deutliche Diskrepanzen zwischen dem bis dahin vorherrschenden Gesellschaftsbild einer hierarchisch strikt gegliederten Ständeordnung und der sozialen Realität offen gelegt, was die Entwicklung eines wesentlich differenzierteren und dynamischeren Modells von der Kastengesellschaft erforderlich machte.
2. jati – innere Organisation des Kastenwesens
Was also charakterisiert eine soziale Gruppe als Kaste? Wie bereits erwähnt, versteht man unter einer Kaste bzw. jati eine Gruppe, die sich als Geburtsgemeinschaft begreift, bei der Ehen nur innerhalb der Gemeinschaft möglich sind. Über dieses Konzept der Geburtsgemeinschaft hinaus lassen sich allerdings in der Regel noch weitere Gemeinsamkeiten erkennen, mit denen sich die Angehörigen einer Kaste identifizieren. An erster Stelle ist ein gemeinsamer Beruf zu nennen, der mit den meisten Kasten in Verbindung gebracht werden kann und auf den auch zumeist der Kastenname hindeutet. Dies muss aber gerade in Anbetracht neuerer gesellschaftlicher Entwicklungen nicht bedeuten, dass alle der Kaste zugerechneten Personen diesen Beruf auch real ausüben. Umgekehrt steht ein bestimmter Beruf nicht exklusiv für eine einzige Kaste. So gibt es z. B. neben den Chamars auch noch andere Lederarbeiterkasten, wie etwa die Chakkiliyan in Tamil Nadu, die sich keineswegs als gemeinsame Kaste verstehen. Bei manchen Kasten liegt allerdings kein tatsächlicher oder imaginärer gemeinsamer Beruf vor, dafür lässt sich aber – meist mithilfe des Namens der Kaste – auf andere Gemeinsamkeiten schließen, die zur Herausbildung der Kaste geführt haben könnten. So verweisen einige Kastennamen auf die ethnische Herkunft (z. B. Chinese), einen (ursprünglichen oder aktuellen) Siedlungsraum (z. B. Golapurab, abgeleitet vom Namen des Flusses Goyal), einen Titel (z. B. Naik), eine rituelle Funktion (z. B. Gondhli, abgeleitet von gondhal, das einen rituellen Tanz bezeichnet) oder einer Ernährungsgewohnheit (z. B. Gokha, „Kuhesser“). Teils findet der Name eine unmittelbare Entsprechung in der Realität, teils sind diesbezügliche Zusammenhänge nicht (mehr) erkennbar.
Durch ihren Charakter als Geburtsgemeinschaft ist eine Kaste zudem durch zahlreiche weitere Gemeinsamkeiten, wie eine gemeinsame Sprache bzw. einen Dialekt und ein gemeinsames kulturelles Brauchtum geprägt. Der Umfang der eigenen Kaste kann auf eine kleine Gruppe in einem eng begrenzten Siedlungsraum beschränkt sein, kann aber auch weit darüber hinausgehen. So verteilen sich die Chamars, die sich vor allem über den gemeinsamen traditionellen Beruf der Lederverarbeitung identifizieren, mit vielen Millionen Mitgliedern über 18 Staaten Nord-, West- und Zentralindiens, während etwa die Gantichores, eine mit Taschendiebstahl in Verbindung gebrachte Gruppe, nur aus wenigen tausend Mitgliedern bestehen, die in drei Distrikten Karnatakas konzentriert sind. Gerade bei großen Kasten muss allerdings kritisch geprüft werden, inwieweit die Idee von einer einheitlichen sozialen Gruppe tatsächlich die Selbstsicht der Gesellschaftsmitglieder repräsentiert und nicht nur eine äußere Zuschreibung – auf der Basis beobachtbarer Verhaltensähnlichkeiten – darstellt. Da etwa seit Mitte des 19. Jh. eine Tendenz zu beobachten ist, soziale Kontakte auch über größere räumliche Entfernungen hinweg zu intensivieren, ist es zumindest ab dieser Zeit sinnvoll, von Kaste auch auf überregionaler Ebene zu sprechen. Zu dieser Vernetzung tragen überregionale Treffen und Feste, die Gründung gemeinsamer Kastenorganisationen oder die Veröffentlichung von Kastenmagazinen, in denen auch Ehearrangements vermittelt werden, bei. Diese Entwicklung hängt mit einer Politisierung der Kaste zusammen, die darauf zurückzuführen ist, dass der politische Einfluss einer Kaste in einem demokratischen System stark von ihrer numerischen Größe abhängig ist.
Ein solches „Großkastenkonzept“ in dem eben beschriebenen Sinn wurde jedoch vorwiegend für eine urban orientierte Mittel- und Oberschicht relevant. Im ländlichen Bereich dagegen ist die Vorstellung von der eigenen Kaste in der Regel auf eine regional stärker eingegrenzte soziale Gruppe beschränkt. Wie stark diese Begrenzung ist, hängt vor allem von der Mobilität der Kastenmitglieder ab – Händlerkasten z.B. haben einen wesentlich größeren Aktionsradius als etwa Straßenkehrer. Die regionale Begrenzung macht es sinnvoll, einen weiteren Begriff für diejenigen Kastenangehörigen einzuführen, die in einem eng begrenzten lokalen Rahmen, d. h. im gleichen oder zumindest in benachbarten Dörfern, leben und intensive soziale Kontakte pflegen, nämlich die Kastengruppe. Der intensive soziale Kontakt vermittelt sich vor allem über eine gemeinsame Berufsausübung, Freundschaften und das Feiern gemeinsamer Feste. Zudem bildet die Kastengruppe in der Regel auch eine Ritualgemeinschaft. Dies führt zu einem hohen Maß an Solidarität und Kooperation innerhalb der Kastengruppe.
Kastengruppen verfügen zumeist über eine eigene administrative Institution, die als panchayat bezeichnet wird. Dieser Kastenrat nimmt die Interessen der Kastengruppe gegenüber der „Außenwelt“ wahr und wacht zudem über das kastenkonforme Verhalten der Mitglieder. Er kann dabei sogar als schärfste Sanktion einen Ausschluss aus der Gruppe beschließen, durch den der Betreffende sozial fast vollständig isoliert wird. Dies geschieht insbesondere bei Eheschließungen, die die Heiratsregeln der Kaste verletzen. Die Konfliktregelung durch den Kastenrat führt zu einem hohen Grad an Autonomie der Kastengruppe gegenüber ihrer Umwelt.
3. Die Interaktion der Kasten – das Kastenwesen
Nachdem bisher nur die interne Organisation von Kasten – grob vereinfachend – beschrieben wurde, soll nun der Kontakt der Kasten untereinander und mithin das sogenannte „Kastenwesen“ Gegenstand der Betrachtung werden. Im Mittelpunkt der Darstellung wird dabei die Gesellschaft im ländlichen Raum stehen, in dem im Übrigen immer noch 75% der indischen Bevölkerung leben, da dort trotz sozialer Wandlungsprozesse die Kaste als handlungsleitende Idee weiterhin eine zentrale Rolle spielt. Die urbane Gesellschaft hat sich dagegen im 20. Jh. sozial immer weiter von der Dorfgesellschaft entfernt, so dass das Konzept der Kaste bzw. ihrer Untereinheiten dort nur noch in ganz bestimmten Kontexten, wie bei Ehearrangements und in politischer Hinsicht, von Bedeutung ist.
Für die soziale Interaktion unter den Kasten des ländlichen Raums erweisen sich zwei Faktoren als maßgeblich: die politisch-ökonomischen Verhältnisse und die Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit. Zunächst zur Bedeutung der politisch-ökonomischen Verhältnisse:
Wie in jeder anderen agrarisch geprägten Gesellschaft war und ist die Kontrolle über den kultivierbaren Boden ein wesentlicher Faktor für eine dominante ökonomische Stellung. Diese Kontrolle wird von Grundherren, die in Nordindien in der Regel als zamindar bezeichnet werden, ausgeübt, die gegenüber dem politischen Herrscher, also in der Vergangenheit dem Fürst oder König, tributpflichtig waren. Solche Kasten von Grundherren waren in Nordindien zumeist gar nicht selbst in der Landwirtschaft tätig, sondern gewährten den das Land bewirtschaftenden Kasten lediglich Schutz und machten diese im Gegenzug ihnen gegenüber tributpflichtig. Obwohl aufgrund der Industrialisierung ökonomische Macht heute auch in Indien immer weniger an Landbesitz gebunden ist, besitzt dieser in agrarisch geprägten Regionen weiterhin einen hohen Stellenwert.
Eine solche sich über den Landbesitz vermittelnde ökonomisch dominante Stellung wirkt sich auf vielfältige Art und Weise im sozialen Bereich aus. Allerdings kann die Dominanz einer Kaste sehr unterschiedlich ausfallen, da sie von der Gruppenstärke und einer möglichen Konkurrenzsituation aufgrund der Existenz weiterer dominanter Gruppen abhängt. Auch eine besondere Autorität im religiösen Bereich, wie sie etwa im Falle dominanter brahmanischer Kasten vorliegt, oder großer politischer Einfluss, wie eine unmittelbare Beziehung zum politischen Machtzentrum, können die dominante Rolle über den Landbesitz hinaus zusätzlich prägen und festigen.
Die Beziehungen unter den Kasten sind aber nicht nur von Hierarchie geprägt, sondern auch von einer starken gegenseitigen Abhängigkeit aufgrund der klaren Arbeitsteilung, die faktisch eine Monopolisierung der meisten Tätigkeiten durch bestimmte Kasten mit sich bringt. Um sich bestimmte Dienste dauerhaft zu sichern, gehen insbesondere dominante Kasten mit Mitgliedern anderer Gruppen, z. B. Wäschern, Barbieren, Töpfern, Wasserträgern oder Latrinenreinigern, unbefristete und sogar erbliche Patronageverhältnisse auf Familienbasis ein, in denen Art und Umfang der jeweils zu verrichtenden Tätigkeiten sowie die dafür zu entrichtende Entlohnung prinzipiell festgelegt sind. In Verbindung mit solchen Dienstverhältnissen stehen auch rituelle Dienstleistungen, wie etwa die Durchführung von so genannten Übergangsriten bei Geburt, erster Menstruation, Hochzeit oder Tod. Durchgeführt werden solche Rituale keineswegs nur von brahmanischen Gruppen, sondern auch von Barbieren, Wäschern oder Töpfern. Diese Verbindung von Versorgungs- und Ritualsektor wird in der Regel als jajmani-System bezeichnet.
Bei denjenigen Kasten, deren Hauptbeschäftigung in landwirtschaftlicher Arbeit besteht, sind solche Patronageverhältnisse dagegen unüblich. Die Angehörigen solcher Kasten werden nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien in Form von Lohnarbeit angestellt, so dass hier keine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber seinen Arbeitern besteht. Traditionell üben diese Kasten neben der landwirtschaftlichen Arbeit Berufe wie z. B. Latrinenreiniger, Leichenträger oder Gerber aus, die vom gesellschaftlichen Umfeld als „unrein“ betrachtet werden und die Menschen, die solchen Tätigkeiten nachgehen, in den Augen anderer „unberührbar“ machen.
Diese Gruppen wurden außerhalb Indiens seit der Kolonialzeit meist als Pariahs bezeichnet, was abgeleitet vom Namen der Paraiyar-Kaste in Südindien allmählich zum Sammelbegriff für alle als unberührbar geltenden Kasten wurde. Gandhi führte dann den Begriff „Harijans“, Kinder Gottes, für diese soziale Schicht ein. Im politischen und medialen Sprachgebrauch werden seit der indischen Unabhängigkeit vor allem die Bezeichnungen „Depressed Classes“ oder „Scheduled Castes“ verwendet. Letzterer Begriff, also „Scheduled Castes“, erklärt sich dadurch, dass solche Gruppen von staatlicher Seite registriert werden und besondere Privilegien, wie reservierte Parlamentssitze, Studienplätze an Universitäten oder Ausbildungsplätze und Arbeitsstellen in öffentlichen Behörden sowie auch finanzielle Hilfen, gewährt bekommen. Seit Anfang der siebziger Jahre des 20. Jh. wurde zunächst von der Mahar-Buddhisten-Bewegung der Begriff „Dalit“ als Selbstbezeichnung benutzt, der sich dann zunehmend auch bei anderen Gruppen durchsetzte. Dalit stammt von der Sanskritwurzel dal, die als „zerbrechen“, „auseinander reißen“ oder „unterdrücken“ zu übersetzen ist. Der Begriff Dalit meint somit die „Zerbrochenen“ oder „Unterdrückten“. Die Dalit-Kasten verrichten ihre Dienste nicht nur für dominante Kasten, sondern auch für solche Kasten, die selbst Klienten der dominanten Kasten sind, wie Wäscher, Barbiere oder Zimmerleute. Umgekehrt werden ihnen jedoch die Dienste all dieser Kasten verweigert.
Es existieren aber auch Kasten, bei denen keine größere Abhängigkeit von den dominanten Kasten besteht. Dazu gehören traditionell die Händlerkasten, die entweder keine ausgeprägten ökonomischen Beziehungen zu den dominanten Kasten unterhalten oder in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit im Rahmen marktwirtschaftlich geprägter Geschäftsbeziehungen stehen. Darüber hinaus nehmen viele, jedoch nicht alle brahmanische Kasten im Ritual- oder Bildungsbereich eine so zentrale Stellung ein, dass ihr Einfluss in der Dorfgemeinschaft nicht von den dominanten Kasten abhängig ist.
4. Bedeutung von Reinheitsvorstellungen für das Kastenwesen
Nun soll der zweite wesentliche Faktor für die soziale Interaktion zwischen Kasten betrachtet werden, nämlich die Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit:
Zunächst einmal ist festzustellen, dass Reinheit und Unreinheit wenig mit Hygiene oder Sauberkeit zu tun haben, sondern zuvorderst religiöse und rituelle Kategorien bilden. Reinheitsnormen finden sich in den Rechtstexten der Sanskrit-Literatur (insbesondere Manusmriti), was aber nicht bedeutet, dass sich die dort beschriebenen Vorschriften unmittelbar der sozialen Realität entsprechen. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass Verunreinigung durch zeitliche und räumliche Veränderungen entsteht und durch körperlichen Kontakt auch auf andere Menschen übertragen werden kann. Solche Veränderungen können in einem Wohnungswechsel, im Wechsel von Tag und Nacht oder der Jahreszeiten genauso bestehen wie in einem biologischen Rhythmus, wie ihn etwa die Menstruation darstellt. Auch Körperausscheidungen, Nahrungsaufnahme und vor allem Tod stellen sehr heikle Veränderungen dar.
Im sozialen Alltag wirken sich die beschriebenen Vorstellungen auf vielfältige Art und Weise aus. So bedeutet die Geburt eines Kindes bei vielen Kasten eine starke Verunreinigung der Mutter und der Hebamme. Der Tod führt zur Verunreinigung großer Teile der Verwandtschaft des Verstorbenen sowie der mit dem Transport und der Verbrennung der Leiche befassten Personen. Der Barbier verunreinigt sich dadurch, dass er mit Körperausscheidungen, in diesem Fall abgeschnittenen Haaren und Zehennägeln, in Kontakt kommt.
Einen besonders sensiblen Bereich stellen Nahrungsmittel und Nahrungsaufnahme dar. Das Risiko der Verunreinigung ist hier besonders hoch, da die Gefahr besteht, eine unreine Substanz unmittelbar dem Körper zuzuführen. Bestimmte Nahrungsmittel gelten an sich als unreiner als andere. Grundsätzlich gilt vegetarische Nahrung im Vergleich zu Fleisch als reiner. Nicht nur der Verzehr bestimmter Nahrungsmittel, sondern auch bereits deren Produktion kann schon verunreinigen. Palmweinzapfer gelten z. B. aufgrund ihrer Alkoholproduktion als unrein. Wichtig ist im Hinblick auf die Nahrung auch die Frage, wer diese zubereitet oder anbietet. So kann auch der Genuss von Wasser verunreinigend sein, wenn dieses von einer als unrein geltenden Person gereicht wird.
Berührungen im Sinne von direktem Körperkontakt und Nahrungsaufnahme sind allerdings nicht die einzigen Wege, auf denen Unreinheit übertragbar ist. Auch Blicke, Sprache oder Gesten, vor allem bei Begrüßungen, können verunreinigende Wirkung haben, da ihnen eine feinstoffliche Qualität zugesprochen wird und sie somit einer körperlichen Berührung gleichkommen.
Der kurze Überblick über die Reinheitsvorstellungen zeigt, dass grundsätzlich Mitglieder aller sozialen Gruppen der Gefahr der Verunreinigung unterliegen. Allerdings muss deutlich zwischen solchen Verunreinigungen unterschieden werden, die nur kurzzeitig auftreten und durch bestimmte Riten wieder entfernt werden können bzw. nach einer bestimmten Zeit von selbst verschwinden, und solchen, die von Dauerhaftigkeit gekennzeichnet sind. So führt insbesondere der Umgang mit unreinen Substanzen im Rahmen der Berufsausübung zu permanenter Unreinheit, von der die Angehörigen einer sozialen Gruppe im Kollektiv betroffen sind. Dies gilt z. B. für die bereits erwähnten Barbiere, die im Rahmen ihrer Berufsausübung immer wieder mit Körperausscheidungen in Kontakt kommen. Mit dieser permanenten Unreinheit hängt auch unmittelbar das Phänomen der Unberührbarkeit zusammen. So gelten Gerber oder Trommler, die ständig mit Leder, also mit Teilen von toten Körpern, in Kontakt sind, und Latrinenreiniger, die für die Fäkalienentfernung zuständig sind, als so unrein, dass sie außerhalb des Kerndorfs in einem eigenen Viertel leben müssen.
Es muss allerdings deutlich darauf hingewiesen werden, dass all diese Reinheitsvorstellungen in der sozialen Realität sehr flexibel gehandhabt werden. Da sie dazu benutzt werden, soziale Hierarchien zu begründen, gelten sie zum Teil nur in ganz bestimmten Kontexten. Dazu ein Beispiel: Das Getreide, das bei der Ernte durch die Hände eines Latrinenreinigers gegangen ist, kann von höheren Kasten problemlos angenommen werden, während es als verunreinigt gilt, wenn es von einem Latrinenreiniger als Geschenk oder Bezahlung dargebracht wird. Zudem ist es auch falsch, von einer lokal gültigen Reinheitshierarchie auf eine starre soziale Hierarchie der Kasten zu schließen. So hat jede Kaste ihre eigene Vorstellung von der jeweils gültigen Hierarchie in ihrem Umfeld, zudem werden gar nicht zu jeder anderen Kaste hierarchische Bezüge hergestellt. Gerade an dieser Stelle zeigt sich wieder, warum das starre varna-Modell für die Beschreibung der sozialen Realität zu kurz greift. Hinzu kommt, dass es für politisch oder ökonomisch aufstrebende Kasten durchaus möglich ist, sich durch Verhaltensänderungen in der Reinheitshierarchie neu zu positionieren. Auch dazu ein Beispiel: Die Agrararbeiterkaste der Gonds gilt normalerweise als unberührbar. Diese Bewertung ändert sich jedoch in den Gebieten, in denen die Gonds in den Besitz von Land gelangt sind. Dort werden sie als Raj Gonds bezeichnet, als eine dominante Kastengruppe akzeptiert und verlieren das Stigma der Unberührbarkeit. Um diese dominante Stellung zu manifestieren, übernehmen die Raj Gonds auch Elemente des Brauchtums anderer dominanter Kastengruppen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, ein ganz typischer Prozess gerade für sozial aufstrebende Kasten, der oft als Sanskritisierung bezeichnet wird. Allerdings stößt dieser Versuch der Nachahmung des Verhaltens höherrangiger Kasten und somit der Überwindung der kulturellen Differenz durch aufstrebende Kasten in der Regel zu einer aggressiven Gegenreaktion der höherrangigen Kasten. Auch sind die Reinheitsvorstellungen, die der sozialen Einordnung einer Kaste durch das gesellschaftliche Umfeld zugrunde liegen, in der Regel doch so stabil, dass sie die Anerkennung eines höheren sozialen Rangs im Falle des politischen oder ökonomischen Aufstiegs einer Kaste zumindest verzögern können. Solche Auseinandersetzungen machen allerdings deutlich, dass das Kastenwesen mittel- und langfristig durchaus eine große Dynamik besitzt und keineswegs als unbeweglich angesehen werden kann.
5. Kasten unter Nicht-Hindus?
Das Ständesystem, also die varna-Ordnung, hat ihren ideologischen Ursprung bereits in den Texten der vedischen Religion und besitzt damit eine religiöse Konnotation. (Nebenbei bemerkt handelt es sich dabei keineswegs um die einzige hinduistische Gesellschaftsordnung, sondern lediglich um eine, wenn auch historisch sehr wirksame Vorstellung von einer idealen Gesellschaft.) Das System der Kasten, also das sogenannte Kastenwesen, ist dagegen unabhängig von jeder Religion, so dass auch Nichthindus Teil dieser Sozialordnung sind. So bilden die nicht-hinduistischen Gruppen ebenfalls Geburts-, Ritual- und Solidargemeinschaften, die sowohl untereinander als auch gegenüber hinduistischen Gruppen hierarchische Bezüge herstellen. Man kann also nicht von einem eigenen christlichen, sikhistischen oder muslimischen Kastenwesen sprechen, vielmehr handelt es sich um eine Kastengesellschaft, in der Kasten bzw. Kastengruppen sozial in Interaktion treten, die je nach den lokalen Gegebenheiten unterschiedliche Religionen verfolgen können. Allerdings wird aus ideologischen Gründen von den Nicht-Hindus eine Einbindung in das Kastenwesen häufig bestritten, auch wenn diese Behauptung auf der Ebene der sozialen Alltagswirklichkeit nicht haltbar ist. Dies wirkt sich vor allem für die Dalits dieser Religionen häufig negativ aus. So sind z.B. die christlichen Dalits aufgrund ihrer offiziellen Nichtexistenz nicht nur von staatlichen Maßnahmen im Rahmen der so genannten „Scheduled-Caste“-Förderung ausgeschlossen, sondern häufig auch von einflussreichen Positionen in den indischen Kirchen, was die Minderheit der hochkastigen Christen durch die Bestreitung der Existenz von Dalits im Christentum zu kaschieren versucht. Blickt man auf das Phänomen der Rekonversionen christlicher Dalits zum Hinduismus, so sollte dieser Aspekt zumindest Teil der Debatte werden.

Literatur:

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