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Von der Akhara in die olympische Arena – eine uralte Sportart wird zu Indiens Hoffnung bei Olympia

Ringer Sushil Kumar
holt Silber in London.
Foto: (c) B.W. Compton
(kjo) Ein Kommentar von Kristian Joshi zur heutigen Silbermedaille für Sushil Kumar im Ringen. Joshi außerdem über Cricket: „Ein bisschen rumstehen, ein bisschen Ball werfen, ein bisschen Spazieren gehen“.

Indien: Dieses riesige Land, das etwas mehr als ein Siebtel der Weltbevölkerung beherbergt, diese aufstrebende Wirtschaftsmacht, diese uralte Nation, die es sich nunmehr 65 Jahre nach der Unabhängigkeit zum Anspruch erklärt hat, aufzuschließen zu den anderen großen Nationen dieser Welt – und zum großen Rivalen China.
Doch während der Staat Milliarden in die Modernisierung der Armee steckt und Indien zum größten Rüstungskäufer der Gegenwart macht, scheinen die Netas (indische Politiker) außer Acht gelassen zu haben, dass moderne Schlachten um Ruhm und Prestige in der Sportarena stattfinden und nicht wie weiland auf dem Schlachtfeld.
Derweil China sich anschickt, den USA ihre Rolle als führende Sportnation streitig zu machen und zum ernstzunehmenden Rivalen für die Weltmacht geworden ist – Russland hat längst den dritten Platz abonniert – übt sich Indien in Bescheidenheit.
Und wer das Land kennt, dem wird diese Tatsache nur wenig Verwunderung abringen können. Denn in Indien gilt körperliche Anstrengung als wenig erstrebenswerte Angelegenheit. Arbeiten in der Hitze: das überlässt man den Angehörigen der unteren Kasten. Diejenigen, die es sich leisten könnten, ihre Kinder Sport treiben zu lassen, schicken sie lieber zum Nachhilfeunterricht oder zu Computerkursen. Denn Wettbewerb findet in Indien vor allem auf dem Bildungslevel statt: Gute Bildung schafft die besten Chancen für gesellschaftlichen Aufstieg. Und der Wettbewerb ist so hart, dass keine Zeit bleibt für Sport in der Freizeit.
In der Schule ist Sport zumeist nicht im Curriculum verzeichnet. Höchstens morgendliches Yoga oder Gymnastikübungen sollen die jungen Leute körperlich beisammen halten.
Und falls sich doch einmal Zeit findet für Leibesübungen, dann wird meist Kultsport Nr. 1 gespielt: Cricket. Wer sich schonmal ein Match angeschaut hat, wird Action und körperliche Hochleistung nur ab und zu aufblitzen sehen. Die meiste Zeit – und derer vergeht während eines Cricket-Spiels viel – wird in der Sonne gestanden (die „Runs“, die es zum Punkten zu absolvieren gilt, sind auch nur schwerlich als solche zu bezeichnen; „Spaziergänge“ träfe es vielleicht besser).
Folgerichtig also – ob der Natur dieses Sportes – dass die Briten ausgerechnet dieses Spiel exzessiv auf dem Subkontinent betrieben: Ein bisschen rumstehen, ein bisschen Ball werfen, ein bisschen Spazieren gehen – locker verteilt über den Tag oder gar mehrere. Der weiße Pullunder wird nur selten dreckig und für den Tee zwischendurch ist genügend Zeit.
Hockey – Indiens offizieller Nationalsport – kommt der Bezeichnung „Sport“ schon entscheidend näher. Aber schon seit Jahrzehnten kann die indische Nationalmannschaft nicht mehr an vergangene Größe anknüpfen. Von 1928 bis 1956 hatte Indien ein Abonnement auf olympisches Gold in der Tasche. Doch 1960 beendete der aus dem eigenen Fleisch geschnittene Erzrivale Pakistan die indische Dominanz auf dem grünen Rasen. Und spätestens als letzterer keiner mehr war, sondern zunehmend von künstlicher Beschaffenheit, da war die indische Herrschaft endgültig vorbei. 1980 vermochte der indische Stern noch einmal kurz aufzublitzen. Ein trügerisches Glitzern freilich, waren doch die großen Hockeynationen wie Deutschland, die Niederlande, Australien und Pakistan aufgrund kaltkriegerischen Politikgeplänkels gar nicht erst dabei gewesen – alles andere als Gold wäre somit eine Schmach gewesen.
Danach konnte man die vergangene Größe nur noch durch freundliche Erwähnung durch den einen oder anderen Fernsehkommentatoren erahnen, der gerne die 8 Rekordolympiasiege erwähnt, wenn Indien gegen Deutschland spielt. Die Realität auf dem Platz lässt diese Vorstellung jedoch gar märchenhaft erscheinen: Stets trottet Indien auf den Kunstrasenplatz wie das Vieh zur Schlachtbank. Siege gegen die Großen kommen – wenns um die Wurst geht – so gut wie nie vor. Gegen den späteren erneuten Olympiasieger Deutschland musste sich der zwerggewordene Hockeyriese mit 2:5 geschlagen geben. Am Ende wurde Indien Letzter im Wettbewerb – keinen einzigen Sieg, nicht mal ein Unentschieden konnten ins Tagebuch eingetragen werden.
Und trotz alledem feiern die indischen Medien die Spiele von London als die erfolgreichsten aller Zeiten: 6 Medaillen hat der Riese auf dem Konto: zwei Silberne und vier Bronzene. Die Bilanz von Peking verdoppelt. (Sollte das so weitergehen könnte Indien nach 4 weiteren Spielen endlich einen Platz unter den besten drei Nationen eingenommen haben – ein schöner Traum.)
Ringer Sushil Kumar rang am letzten Wettkampftag sogar noch um Gold. Und das ist eben das unerwartete: Dieses riesige Land, besiedelt von wuseligen, schmächtigen, kleinen wuschelköpfigen Menschen, die Englisch mit lustigem Akzent sprechen, gewinnt seine meisten Medaillen (genau gesagt zwei) – im Ringen! (Gut, im Schießen waren es auch zwei – aber das ist ja kein Sport…)
Und das sollte eigentlich gar nicht mal überraschen. Denn wo bei den meisten aus dem Westen eingeführen Sportarten die Infrastruktur fehlt und die nach westlichem Vorbild organisierte Verbandsstruktur viel Geld und Talent den Bach der Korruption heruntergehen lässt, gibt es in Indien im Ringen seit Jahrhunderten organisierte traditionelle Organisationsgeflechte, die Akharas, Ringerschulen geführt von einem Guru (Hindu) bzw. Ustaad (Muslim).
Das traditionelle indische Ringen – versehen mit den persischen Begriffen „Kushti“ und „Pehelwani“ – ist eine iranisierte Form des uralten indischen Malla-Yuddha, das schon im Mahabharata Erwähnung findet.
Die Trainingsmethoden orientieren sich an uralten Regeln, die zumeist noch aus der Zeit des Malla-Yuddha stammen. In der Mogul-Zeit fanden dann iranische und mongolische Nomenklatur sowie Übungen Einzug in die indische Ringkunst. Teil des Trainings sind Vyayam (Gymnastik und Krafttraining) und Yoga. Eine wichtige Rolle spielt auch die Ernährung nach den Regeln des Sankhya. Dabei wird das Wesen des Universums in drei Eigenschaften (Gunas) aufgeteilt: sattva (ruhig, gütlich), rajas (leidenschaftlich, aktiv), tamas (schwerfällig, lethargisch). Ringer ernähren sich zumeist sattvisch, das bedeutet von vegetarischen, milden Speisen, um die rajasische Natur ihres Sportes auszugleichen.
Die meisten indischen Ringer werden in der alten indischen Form des Ringens groß – schwere Steinbrocken und -keulen hebend, Bäume stemmend, halbnackt auf rotem Lehm kämpfend. Sie wohnen in der Akhara ihres Gurus und teilen sich nicht selten zu zehnt einen Schlafraum. International treten die Pehelwans dann meist im freien Stil an. Dabei waren sie seit der Unabhängigkeit auch oft recht erfolgreich. 1952 gewann Indien eine Bronzemedaille bei den Spielen in Helsinki und für die ersten 30 Jahre nach der Unabhängigkeit gehörte Indien zu den besten 10 Ringernationen der Welt.
Und spätestens seitdem Indiens Top-Mann Sushil Kumar 2008 in Peking Bronze in der Gewichtsklasse bis 66 kg gewann und es ihm bei der diesjährigen Olympiade Yogeshwar Dutt in der Gewichtsklasse bis 60 kg gleichtat, ruhen die größten Hoffnungen der Inder derzeit und in Zukunft auf ihren Ringern (und erstaunlicherweise auch auf den Boxern und -innen, bedenke man, dass jeweils 2008 und 2012 eine Bronzemedaille verzeichnet werden konnte).
Am letzten Wettkampftag also ging es für Indien nochmals um Gold – Sushil Kumar vermochte nicht den Glanz des riesigen Sportzwergs ein wenig heller aufblitzen zu lassen: Die zweite Silbermedaille dieser Spiele sollte das höchste aller Gefühle bleiben.
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