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(nw) „Wirf sie in den Mülleimer“ ist der Rat, mit dem Papalal von einer der Polizeistationen von Hyderabad abgewiesen wird, zu der der hinduistische Tempelmaler das kleine Mädchen bringt, das er eben bei einem Bombenanschlag gerettet hat. Da Papalal und seine Frau ungewollt kinderlos sind, beschließen sie, das Mädchen bei sich aufzunehmen. Nicola Westermann hat sich für uns „Chronicles of a Temple Painter“ auf dem indischen Filmfestival in Stuttgart angeschaut.
Zunächst scheint sich die Prophezeiung des Astrologen, den Papalal und seine Frau konsultieren, zu bewahrheiten: Diese besagt, dass das kleine Mädchen die Göttin Lakshmi selbst und ihre Aufnahme in die Familie heilvoll für die Familiengeschicke sei. Tatsächlich gebiert Papalals Frau in der Folge zwei weitere Kinder. Er selbst erhält mehr berufliche Aufträge als zuvor. Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg beginnt, das Familienglück scheint perfekt.
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Erst nach der Aufnahme in die Familie wird offenbar, dass das kleine Mädchen, das nun den Namen Anjali trägt, muslimischer Herkunft ist. Für Papalal kein Problem: Hinduismus und Islam, so seine Überzeugung, seien letztlich Ausdruck des Einen. Ekta, „Einheit“, nennen er und seine Frau deshalb auch die nachfolgend geborene Tochter. Gegenüber den beginnenden Einwendungen seiner Verwandten und Nachbarn findet er eine Legitimierung im hinduistischen Epos Ramayana, wurde doch Sita – ebenfalls eine Inkarnation der Göttin Lakshmi – einst vom kinderlosen König Janaka adoptiert.
Kurze Zeit später greift die Presse den Fall auf und feiert Papalals Aufnahme eines muslimischen Mädchens vor dem Hintergrund des barbarischen Attentats als einen Akt der Humanität. Diese Wertschätzung teilt auch die muslimische Gemeinschaft in Hyderabad, die durch die Medien informiert wird. Doch schnell kommt auch die schicksalhafte Rolle der Medien, die in einem weiteren Interview das Mädchen selbst befragt, zum Tragen: Lernt sie Arabisch? Nein. Liest sie den Koran? Nein. Daraufhin werden Muslime bei Papalal vorstellig, die ihn auffordern, das Kind einer muslimischen Familie zu übergeben. Doch diesem Wunsch kann er nicht nachkommen, zu sehr hat er das Mädchen ins Herz geschlossen. Dann solle er selbst zum Islam zu konvertieren, drängen sie und schenken ihm einen Hindi-Koran. Doch für Papalal sind auch Bhagavad Gita und Koran letztlich eins.
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Der Dokumentarfilm „Chronicles of a Temple Painter“ von Shravan Katikaneni ist ein weiterer mutiger Beitrag auf dem Filmfestival, der den Blick auf ein sensibles gesellschaftliches Thema richtet. Er zeichnet auf eindrucksvolle und jederzeit nachvollziehbare Weise die zunehmend komplexer werdende Dynamik nach, die sich im Zusammenspiel von Verwandten, hinduistischen Nachbarn, muslimischer Gemeinschaft, Medien, Polizei und Politik entwickelt und in deren Folge sich Papalal und seine Familie sowohl Versuchen der Bestechung als auch tätlicher Gewalt, Entzug von Aufträgen, Interventionen gegen die Legalisierung der Adoption, Morddrohungen sowie finanziell ruinösen Strafrechtsverfahren ausgesetzt sieht. Den Bestechungsversuchen widerstehend und das ihm auferlegte Leid ertragend sucht er während einer 15-tätigen Inhaftierung im Gebet nach Antworten auf sein Dilemma: „Warum werde ich bestraft, obwohl ich Gutes getan habe?“
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Katikaneni enthält sich einer eigenen Antwort und lässt die Geschehnisse für sich selbst sprechen: Auf bedrückende Weise zeigt sein Film, dass Mitmenschlichkeit – ein ethisches Prinzip, auf dem im interreligiösen Dialog die Hoffnung vieler religiöser Autoritäten weltweit liegt – alleine nicht ausreicht, um moralische Orientierung zu bieten: Hätte Papalal das Mädchen herausgeben oder sein muslimisches und hinduistisches Umfeld akzeptieren sollen, dass ein muslimisches Mädchen im hinduistischen Glauben aufgezogen wird? Auch die hinduistische Argumentationsfigur des „Einen hinter den Vielen“ – eigentlich eine Stärke des Hinduismus, wenn es um religiöse Toleranz und die Begründung der Einheit hinter der Vielfalt hinduistischer Traditionen, aber auch einer letzten Einheit von Hinduismus und Islam geht – stößt in diesem konkreten Fall weder auf muslimischer noch auf hinduistischer Seite auf genügend Akzeptanz, um den Konflikt um die religiöse Erziehung des Mädchens einvernehmlich zu lösen. Der Film macht aber auch deutlich, dass der Konflikt nur zu einem Teil überhaupt von religiösen Gründen angefacht wird. Vielmehr spielen bei seiner Eskalation eine Vielzahl allgemein menschlicher Motive eine ebenso entscheidende Rolle. So beispielsweise der Neid über den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg einer Familie und deren mediale Beachtung. Oder aber der Unmut einiger Nachbarn über die plötzliche Polizeipräsenz in Papalals Viertel angesichts eigener illegaler Geschäfte.
Katikanenis Leistung ist es, durch die differenzierte Darstellung aller Facetten des Konflikts ein Bewusstsein für dessen Komplexität zu schaffen. Entsprechend der Einsicht, dass es keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen gibt, endet der Film nicht mit einer möglichen Lösung, sondern mit einem Appell an die beteiligten Parteien: Die letzte Szene des Films zeigt Papalal am Grab eines christlichen Missionars, der sich zeitlebens um die Versöhnung von Hindus und Muslimen in Indien bemühte und dafür von beiden Gemeinschaften gleichermaßen geschätzt wird. „Hindus und Muslime sind die zwei Augen Indiens,“ so Papalal, der damit auf ein berühmtes Zitat des muslimischen Führers Sir Syed Ahmed anspielt. Sie sollten sich gegenseitig unterstützen und das Verbindende suchen – in dem Wissen, dass das Wohlergehen beider Gemeinschaften nur gemeinsam gesichert werden kann.