Walter Lindner, ehemaliger deutscher Botschafter in Indien, bringt in einem Interview mit ZEIT ONLINE zum Ausdruck, dass Indien vom Westen oft unterschätzt werde. Der 68-jährige diplomatische Veteran, der 40 Jahre im Dienst war, beleuchtet in seinem neuen Buch „Der alte Westen und der neue Süden. Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist“ gemeinsam mit Heike Wolter die zentrale Rolle, die Indien in der heutigen Welt spiele.
Lindner erklärt im Interview: „Indien wird vom Westen häufig ignoriert, obwohl es eine zentrale Rolle in der Welt spielt.“ Er hebt hervor, dass das Land, das durch eine junge Bevölkerung und eine hohe Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet sei, eine Vorreiterrolle in der Digitalisierung einnehme. „Wir müssten von Indien lernen, bevor wir vom Rest der Welt überrollt werden,“ so Lindner. Besonders beeindruckt sei er von der innovativen Nutzung von QR-Codes, die sogar für alltägliche Zahlungen verwendet würden.
Während Lindners Ausführungen auf den ersten Blick einen positiven und optimistischen Blick auf Indien werfen, könnte diese Sichtweise jedoch auch als zu einseitig betrachtet werden: Die ernsthaften Herausforderungen, mit denen Indien konfrontiert ist, wie der Klimawandel, die soziale Ungleichheit und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, sind noch immer allgegenwärtig und werden hier nicht hinreichend behandelt. Ein tieferer Blick auf die Auswirkungen des Hindu-Nationalismus unter der BJP-Regierung, einschließlich der Einschränkungen der Pressefreiheit und der Verfolgung von Oppositionellen, hätte dem Leser ein umfassenderes Bild der politischen und sozialen Realität Indiens vermitteln können. Weder fragt der Interviewer Lindner nach seinem 2019 getätigten Besuch der ultrarechten Organisation RSS, noch geht Lindner selbst darauf ein. Damals habe Lindner auf Proteste hin lediglich geantwortet, dass er sich ein Bild über die RSS machen wolle, viele Fragen an den Chef der Organisation gestellt habe und die Erkenntnisse in sein Bild von Indien mit verarbeite.
In der Diskussion über die Demokratie in Indien äußert Lindner Vertrauen in die Resilienz des indischen Rechtssystems und die lebendige öffentliche Diskussion. „Indien ist ein sehr meinungsstarkes Land und ich habe Vertrauen in die indischen Gerichte,“ sagt er. Diese Sichtweise klingt etwas vereinfachend, insbesondere angesichts der Berichte über zunehmende Einschränkungen der Redefreiheit und die Repression gegen Journalisten und politische Gegner in den letzten Jahren.
Interessant ist die Behandlung der westlichen Doppelmoral, besonders im Kontext der Coronapandemie. Lindner kritisiert, dass Europa anfangs nur auf seine eigenen Bedürfnisse fokussiert gewesen sei, während Indien unter extremen Bedingungen Impfstoffe produziert und die Welt versorgt habe. „Das war ein brutales Fallenlassen der Maske Europas,“ erklärt Lindner. Seine Kritik ist berechtigt, doch eine detailliertere Betrachtung der geopolitischen und wirtschaftlichen Realitäten der westlichen Entscheidungsträger sowie der Herausforderungen bei der globalen Impfstoffversorgung hätte das Bild der internationalen Beziehungen während der Pandemie erweitern können.
Lindner reflektiert auch über das koloniale Erbe Indiens und die bemerkenswerten Fortschritte seit der Unabhängigkeit. „Indien war eine gebrochene, ausgebeutete Nation, die sich in die Freiheit kämpfte,“ stellt er fest und lobt die Entwicklung des Landes. Diese Perspektive ist richtig, jedoch müsste man auch hier die fortdauernden Auswirkungen kolonialer Strukturen auf das moderne Indien und mögliche historische Kontinuitäten weiter beleuchten.
Abschließend kritisierte Lindner die westliche Sichtweise auf Indien und fordert dazu auf, diese Perspektiven zu hinterfragen. Er betonte, dass der Westen seine Rolle und seinen Respekt gegenüber anderen Ländern überdenken müsse, um relevant zu bleiben. „Indien sieht die Welt größer als Europa und Amerika,“ so Lindner. Dies, gepaart mit seiner Flexibilität in der internationalen Diplomatie, mache Indien zu einem wertvollen Partner. Gleichzeitig reflektiert er die komplexe Realität Indiens, das trotz Errungenschaften wie dem Mondflug 2023 mit erheblichen sozialen Gegensätzen kämpfe. „Indien ist zu komplex für unsere schwarz-weiß Kategorien,“ sagt er.
Insgesamt bietet das Interview zwar keine gänzlich neuen Einblicke in die Bedeutung Indiens, gewinnt jedoch an Gewicht durch die Perspektive eines erfahrenen Diplomaten, der zu Recht dazu auffordert, westliche Sichtweisen kritisch zu hinterfragen. Lindners optimistische Einschätzungen und seine Betonung der Stärken Indiens lassen indes Fragen offen, inwieweit die Herausforderungen und politischen Spannungen im Land ausreichend berücksichtigt werden. Eine differenziertere und tiefere Betrachtung dieser Aspekte wäre wünschenswert gewesen, um ein ausgewogeneres Bild von Indien und seiner Rolle in der globalen Arena zu zeichnen. Es ist daher möglich, dass die Kürze des Interviews die Tiefe der Analyse eingeschränkt hat und das Buch dazu detailliertere und aufschlussreichere Einblicke bieten kann.
Links:
- Indien und der Westen: „Wir müssen die Bedingungen anderer Länder ernster nehmen“ | ZEIT ONLINE
- DIP – Besuch des deutschen Botschafters Walter J. Lindner bei der Organisation RSS in Indien (bundestag.de)
- RSS a part of the Indian mosaic: German ambassador who visited Nagpur reacts to criticism – The Week
Ich halte die bisher nicht klare Haltung zum Besuch der RSS für fragwürdig. Warum kann sich Lindner nicht einmal im Ruhestand klar positionieren?