Indien hat sich in den letzten Jahren zu einem immer wichtigeren Akteur auf der internationalen Bühne entwickelt, insbesondere vor dem Hintergrund der intensiver werdenden Rivalität zwischen China und den USA. Doch während die geopolitische Bedeutung des Landes steigt, zeigt seine Demokratie beunruhigende Schwächen. Die Journalistin Manali Kumar schrieb für die Neue Züricher Zeitung eine lesenswerte Bilanz: „Unter Narendra Modi ist ein neues, maskulines Indien entstanden“.
Rückschritte in der Demokratie
Seit seiner Unabhängigkeit hat Indien 18 allgemeine Wahlen abgehalten – unter postkolonialen Nationen ist das selten. Diese demokratische Tradition hat dem Land jedoch global Anerkennung verschafft. Allerdings hat sich das politische Klima unter Premierminister Narendra Modi (auf dem Foto mit Bundeskanzler Olaf Scholz) und seiner Bharatiya Janata Party (BJP) stark verändert. Eingriffe in Wahlprozesse und die Unterdrückung oppositioneller Stimmen sind inzwischen keine Seltenheit mehr.
Zu den Maßnahmen der Regierung zählen das Einfrieren von Bankkonten oppositioneller Parteien, die Verhaftung ihrer Anführer und die Disqualifikation ihrer Kandidaten. Solche Aktionen, die ohne größere Geheimhaltung durchgeführt werden, spiegeln ein zunehmendes Gefühl der Straflosigkeit innerhalb der Regierungspartei wider. Die BJP schien sich sicher zu sein, bei vergangenen Wahlen erneut erfolgreich zu sein, war es auch und fürchtete daher keine Konsequenzen für ihr Handeln. Dennoch erhielt sie weniger Stimmen als zuvor und muss ich nun mit einer stärkeren Opposition auseinandersetzen.
Die Modi-Dekade
In den zehn Jahren unter Modis Führung hat sich das Bild Indiens stark gewandelt. Der Traum des Gründervaters Jawaharlal Nehru von einem liberalen und integren Indien scheint weiter entfernt denn je. Obwohl Indien für die USA und ihre Verbündeten ein wichtiger Partner im geopolitischen Spiel gegen China ist, zeigt Delhi wenig Zurückhaltung in seiner innenpolitischen Praxis. Sanktionen, wie sie in der Vergangenheit aufgrund von Atomtests verhängt wurden, sind heute unwahrscheinlich, da die wirtschaftlichen und strategischen Interessen überwiegen.
Erosion demokratischer Werte
Die Modi-Regierung hat in mehreren Bereichen die demokratischen Grundsätze untergraben. Eigentumsrechte werden unterschiedlich gehandhabt, oft zum Nachteil der muslimischen Minderheit. Religiöse Gewalt hat zugenommen, und Kritiker der Regierung sehen sich zunehmender Repression ausgesetzt. Prominente Denkfabriken, internationale NGOs und ausländische Medien waren wiederholt Ziel von Razzien.
Modis autoritärer Führungsstil hat die Macht im Land weiter zentralisiert. Parlamentsdebatten werden selten geführt, und Modi selbst hat sich noch nie einer Pressekonferenz gestellt oder Fragen im Parlament beantwortet. Diese Entwicklungen haben die demokratischen Institutionen geschwächt und das Vertrauen in die Regierungsführung erschüttert.
Wirtschaftlicher Fortschritt und soziale Probleme
Trotz der politischen Herausforderungen ist Indiens Wirtschaft unter Modi gewachsen. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg von 5000 Dollar im Jahr 2014 auf über 7000 Dollar im Jahr 2022. Extreme Armut wurde beseitigt, doch die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, insbesondere unter Frauen. Auch die Unterernährung bei Kindern ist nach wie vor ein großes Problem.
Die junge Bevölkerung des Landes könnte eine große wirtschaftliche Chance darstellen, doch viele junge Menschen verfügen nicht über die notwendige Bildung und Ausbildung. Die Qualität der Schulen und die Infrastruktur bleiben große Baustellen.
Indien auf der internationalen Bühne
Indien tritt international zunehmend selbstbewusst auf. Die Außenpolitik ist entschlossener geworden, und die Regierung wehrt sich lautstark gegen westliche Kritik an ihrer Menschenrechtsbilanz. Indiens wirtschaftliche und strategische Beziehungen zum Westen haben sich vertieft, auch wenn das Land formale Bündnisse weiterhin ablehnt.
Zukunftsperspektiven
Die BJP dürfte in ihrer dritten Amtszeit umstrittene Reformen weiter vorantreiben, darunter ein einheitliches Zivilgesetzbuch und die gleichzeitige Abhaltung von Wahlen auf zentraler und bundesstaatlicher Ebene. Auch wirtschaftliche Initiativen wie das „Make in India“-Programm zur Förderung des verarbeitenden Gewerbes werden eine wichtige Rolle spielen.
In der Außenpolitik wird Indien seine strategische Autonomie bewahren wollen, auch wenn die Beziehungen zu den USA und anderen westlichen Ländern enger werden. Handelskonflikte und protektionistische Maßnahmen könnten jedoch Hindernisse darstellen.
Fazit
Indien hat unter Modi eine Mischung aus wirtschaftlichen Erfolgen und demokratischen Rückschritten erlebt. Das Land steht vor der Herausforderung, demokratische Werte zu bewahren, soziales und wirtschaftliches Wachstum zu fördern und seine strategische Position in der Welt zu stärken. Die kommenden Jahre werden entscheidend dafür sein, ob Indien diesen Balanceakt erfolgreich meistern kann.
Für den Westen bleibt die Frage, ob ein wirtschaftlich starkes, aber demokratisch schwaches Indien ein akzeptabler Partner ist. Diese Frage wird sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die indische Bevölkerung in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen.
Link: Indien am Scheideweg: eine Bilanz von zwei Amtszeiten Narendra Modis (nzz.ch)
Foto: (c) MEAphotogallery
Ich habe Zweifel, dass Indien das Vergewaltigungsproblem unter Modi effektiv in den Griff bekommt. Und der Säkularismus ist eh passé…