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Romantisch, grausam und profitabel

In der Zeitschrift „Forschung & Lehre“, die vom Deutschen Hochschulverbund herausgegeben wird, analysiert Carmen Brandt in „Warum deutsche Indienbilder täuschen“ die in Deutschland weit verbreiteten Vorstellungen von Indien und zeigt auf, wie diese oft durch Stereotypen und Vereinfachungen geprägt sind. Sie argumentiert, dass viele Menschen in Deutschland dazu neigen, Indien als ein homogenes Gebilde wahrzunehmen, obwohl das Land in Wirklichkeit extrem vielfältig ist, was Sprachen, Religionen, Ethnien und Kulturen betrifft. Dennoch dominieren in Deutschland drei stereotypische Indienbilder: das romantische, das grausame und das profitable Indienbild.

Das romantische Indienbild hat seine Ursprünge im späten 18. Jahrhundert, als deutsche Intellektuelle, beeinflusst von der Romantik, Indien als eine spirituelle und mystische Welt idealisierten. In dieser Epoche, die durch gesellschaftliche Umbrüche wie die Aufklärung, die Französische Revolution und die Industrialisierung geprägt war, sehnten sich viele Literaten nach einer harmonischeren Welt, die sie in einem idealisierten Bild Indiens zu finden glaubten. Das alte Indien wurde als Hort der Weisheit und des verlorenen Paradieses betrachtet. Johann Gottfried Herder, einer der Vertreter dieser Vorstellung, sah trotz seines Wissens um soziale Missstände in Indien wie die Diskriminierung der Unberührbaren und das Phänomen der Witwenverbrennungen das Land als ein spirituelles Vorbild. Diese Romantisierung Indiens wurde durch die Übersetzung des altindischen Dramas Shakuntala verstärkt, das bei deutschen Intellektuellen großen Anklang fand und eine Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte nach einer besseren, spirituelleren Welt bot. Dieser Idealismus ignorierte jedoch die sozialen Realitäten Indiens und schuf ein verzerrtes Bild, das bis heute in vielen Köpfen nachwirkt.

Im Gegensatz dazu steht das grausame Indienbild, das sich auf die negativen Aspekte der indischen Gesellschaft konzentriert. Hier dominieren Vorstellungen von Armut, Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit. Besonders Medienberichte über Verbrechen wie Gruppenvergewaltigungen oder die Diskriminierung der Unberührbaren verstärken dieses Bild. Auch historische Persönlichkeiten wie Karl Marx trugen zu diesem Bild bei. Marx, der ein überzeugter Antiimperialist war, sah Indien als rückständiges Land an, das nur durch die Kolonialisierung der „zivilisatorisch überlegenen“ Briten vorangebracht werden könne. Diese Sichtweise spiegelt sich auch heute in der Berichterstattung wider, die oft die Probleme des Landes in den Vordergrund stellt, während positive Entwicklungen ignoriert werden. Entwicklungsorganisationen und Sozialwissenschaftler tragen ebenfalls dazu bei, indem sie die Missstände in Indien betonen, um ihre eigenen Projekte zu rechtfertigen.

Das dritte Indienbild, das in Deutschland weit verbreitet ist, sieht Indien vor allem als eine aufstrebende Wirtschaftsmacht. Besonders seit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes in den 1990er Jahren ist dieses Bild populär geworden. Indien wird als ein profitabler Markt mit einer großen, kaufkräftigen Mittelschicht wahrgenommen, der für deutsche Unternehmen viele Chancen bietet. In den frühen 2000er Jahren, als in Deutschland die Debatte um die Anwerbung indischer IT-Spezialisten unter dem Schlagwort „Kinder statt Inder“ entbrannte, wurde Indien zunehmend als technologische Macht gesehen. Doch auch dieses Bild ist einseitig, da es die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen Indiens oft ignoriert. Viele deutsche Unternehmen, die in den indischen Markt eintraten, waren enttäuscht, da die erhofften Gewinne oft ausblieben. Die kulturellen und bürokratischen Hürden in Indien wurden unterschätzt, und die Größe der indischen Mittelschicht, die als Hauptzielgruppe galt, wurde oft überschätzt. Dieses profitable Indienbild führte dazu, dass unrealistische Erwartungen geschürt wurden, die sich in der Realität nicht erfüllten.

Brandt weist darauf hin, dass diese vereinfachten und stereotypischen Indienbilder in Deutschland lange Zeit unproblematisch waren, weil es nur wenige direkte Berührungspunkte zwischen Deutschland und Indien gab. Im Gegensatz zu Großbritannien, das Indien kolonialisiert hatte und heute eine große südasiatische Gemeinschaft hat, bestand in Deutschland keine Notwendigkeit, sich intensiv mit dem Land auseinanderzusetzen. Indien war lange Zeit nur ein fernes Land, das bei den meisten Deutschen kaum im Alltag präsent war. Doch in den letzten Jahrzehnten, mit dem wachsenden globalen Einfluss Indiens, wird eine differenziertere Sichtweise immer wichtiger. Der Begriff „Südasien“, der die gesamte Region einschließlich anderer Länder wie Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka beschreibt, hat sich in Deutschland nur langsam durchgesetzt. Oft wird der moderne Staat Indien nicht vom gesamten indischen Subkontinent unterschieden, was zu weiteren Missverständnissen führt.

Ein weiteres Problem, das die Autorin hervorhebt, ist das Fehlen von fundiertem Wissen über das moderne Indien in Deutschland. Während es in der akademischen Welt eine lange Tradition der Indologie gibt, die sich jedoch hauptsächlich auf das antike Indien konzentriert, fehlt es an Fachwissen über das zeitgenössische Indien. Diese Lücke führt dazu, dass wichtige Entscheidungen in Politik und Wirtschaft oft auf unzureichendem Wissen basieren. Erst in jüngster Zeit hat sich an einigen Universitäten eine Südasienwissenschaft etabliert, die sich mit der aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation in Indien und den Nachbarländern beschäftigt. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber noch immer gibt es in Deutschland zu wenig Expertise über die gegenwärtigen Entwicklungen in Indien und Südasien.

Zusammenfassend verdeutlicht der Artikel, dass die deutschen Vorstellungen von Indien oft durch vereinfachte Stereotypen geprägt sind, die der Realität nicht gerecht werden. Das romantische, das grausame und das profitable Indienbild bieten jeweils nur eine verzerrte Perspektive auf das Land, das in Wahrheit viel komplexer ist. Angesichts der wachsenden globalen Bedeutung Indiens wird es immer wichtiger, diese Klischees zu hinterfragen und eine differenziertere, realistischere Sichtweise zu entwickeln. Dazu bedarf es mehr wissenschaftlicher Forschung und besserer Berichterstattung, die nicht nur auf Stereotypen basiert, sondern die tatsächliche Vielfalt und Komplexität des modernen Indiens berücksichtigt.

Quelle: Kulturwissenschaften: Warum deutsche Indienbilder täuschen – Forschung & Lehre (forschung-und-lehre.de)

Foto: (c) Nick Kenrick

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