Indien, die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, steht vor tiefgreifenden internen Konflikten, die das soziale Gefüge der Nation erschüttern. Besonders in den nordöstlichen Bundesstaaten, in den Beziehungen zwischen religiösen Gemeinschaften und in den ländlichen Gebieten, die vom maoistischen Aufstand betroffen sind, zeigen sich Spannungen, die historische, soziale und politische Ursachen haben. Diese Konflikte stellen nicht nur die indische Demokratie auf die Probe, sondern auch die gesellschaftliche Einheit des Landes.
Die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premierminister Narendra Modi hat seit ihrem Machtantritt 2014 tiefgreifende politische und gesellschaftliche Veränderungen angestoßen. Ihr Ziel: Indien in eine „Hindu-Nation“ zu verwandeln. Dieser Ansatz hat bestehende Konflikte verschärft und neue Gräben geschaffen. Demokratische Institutionen wurden geschwächt, Kritiker unterdrückt und Minderheitenrechte beschnitten. Führende BJP-Politiker hetzen regelmäßig gegen Muslime, was eine Atmosphäre der Angst und Polarisierung geschaffen hat.
Ein besonders schwerwiegender Konfliktherd ist der nordöstliche Bundesstaat Manipur, wo im Jahr 2023 Gewalt zwischen den ethnischen Gruppen der Meitei und Kuki ausbrach. Die Meitei, die größte ethnische Gruppe in Manipur, fordern die Anerkennung als registrierte Stammesgesellschaft, was ihnen Zugang zu staatlichen Förderprogrammen und Landrechten ermöglichen würde. Die Kuki sehen darin eine Bedrohung ihrer Existenz und fürchten um ihre Gebiete und Ressourcen. Die Spannungen eskalierten in ethnische Säuberungen, Zerstörungen und Vertreibungen. Mehr als 60.000 Menschen wurden obdachlos, und über 200 starben in den Auseinandersetzungen. Die BJP, die in der Region regiert, wird beschuldigt, die Meitei zu bevorzugen und den Konflikt durch ihre hindu-nationalistische Agenda anzuheizen.
Ein weiterer zentraler Konflikt betrifft den maoistischen Aufstand, bekannt als „Volksbefreiungskrieg“. Die maoistischen Rebellen, auch Naxaliten genannt, kämpfen für eine kommunistische Gesellschaftsordnung und ziehen ihre Unterstützung vor allem aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen wie Dalits, indigenen Adivasi und verarmten Bauern. Trotz einer massiven Militäroffensive in den letzten Jahren bleibt der Konflikt blutig: In den vergangenen vier Jahren starben über 750 Menschen. Die Ursachen liegen in der anhaltenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit, die durch Modernisierungsprozesse und neoliberale Wirtschaftsreformen noch verstärkt wird. Während die Zentralregierung militärische Erfolge verzeichnet, bleiben die strukturellen Probleme wie Landlosigkeit, Diskriminierung und fehlende Entwicklung ungelöst.
Diese Konflikte haben historische Wurzeln, die bis in die britische Kolonialzeit zurückreichen. Damals wurden viele Regionen, insbesondere im Nordosten, wirtschaftlich marginalisiert und politisch vernachlässigt. Die Schaffung der modernen indischen Nation nach der Unabhängigkeit hat es versäumt, diese Ungleichheiten zu beheben, und oft neue Spannungen erzeugt. Die BJP nutzt diese historischen Wunden, um ihre politische Agenda zu stärken, was die Konflikte weiter verschärft.
Die Regierung verfolgt eine zweigleisige Strategie: militärische Maßnahmen zur Kontrolle der Gewalt und Entwicklungsprogramme, um die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen der Konflikte zu adressieren. Friedensverhandlungen, Autonomieregelungen und Rehabilitierungsprogramme für ehemalige Kämpfer haben punktuell Erfolge gezeigt. Doch unter der aktuellen politischen Führung fehlt es oft an dem Willen, langfristige und inklusive Lösungen zu finden. Stattdessen werden religiöse und ethnische Spannungen weiter angeheizt, und staatliche Institutionen agieren parteiisch.
Indien steht an einem entscheidenden Punkt seiner Geschichte. Das Land muss sich entscheiden, ob es eine Zukunft der Integration und Gleichberechtigung oder der Ausgrenzung und Fragmentierung anstrebt. Der Ausgang dieser Konflikte wird nicht nur das soziale Gefüge Indiens prägen, sondern auch seine Rolle als weltgrößte Demokratie in Frage stellen.