
(ts) Auroville, das utopische Experiment für eine neue Form des Zusammenlebens, steht heute an einem kritischen Punkt. An der Küste Südindiens, nicht weit von Pondicherry, begannen in den späten 1960er Jahren eine Handvoll Idealisten, die Vision einer internationalen Gemeinschaft aufzubauen, in der Menschen aller Nationen in Einklang miteinander und der Natur leben sollten. Gegründet von der mystischen Französin Mirra Alfassa, die von ihren Anhängern „Die Mutter“ genannt wurde, hat Auroville die Welt mit seinem gewagten Konzept von Freiheit, Spiritualität und Gleichheit fasziniert. Doch in den letzten Jahren ist der Frieden in der einst so harmonischen Stadt des Lichts gestört. Ein zunehmender Streit über die Zukunft Aurovilles und die Eingriffe der indischen Regierung setzen das Modell von Auroville zunehmend unter Druck.
Ursprünglich sollte Auroville eine spiralförmige Stadt für 50.000 Menschen werden, mit einem spirituellen Zentrum, dem Matrimandir, in der Mitte. Doch das Ziel wurde nicht erreicht. Statt einer blühenden Metropole bleibt Auroville eine ländliche Siedlung, deren Infrastruktur und Entwicklung weit hinter den ambitionierten Plänen zurückgeblieben sind. Der jahrzehntelange Traum, ein ideales Zusammenleben auf diesem abgelegenen Stück Land zu realisieren, ist bisher eher langsam gewachsen – und das nicht nur wegen der Naturgegebenheiten und der schwierigen geografischen Lage.
In den letzten Jahren jedoch hat sich die Situation geändert. Die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi drängt zunehmend auf die Umsetzung des ursprünglichen Masterplans, der von den Gründern in den 1960er Jahren entwickelt wurde. Straßen sollen gebaut und die Stadtentwicklung vorangetrieben werden, doch viele Bewohner sehen in dieser Maßnahme eine Bedrohung für die Identität und den Ursprung Aurovilles. Besonders umstritten ist der Bau einer Ringstraße, die durch das grüne, bewaldete Gebiet rund um das Matrimandir führen soll. Während die Regierung auf eine weitere Modernisierung pocht, befürchten viele, dass Auroville dadurch seine spirituelle und gemeinschaftliche Seele verlieren könnte.
Der Konflikt begann ernsthaft mit einem Besuch von Modi im Jahr 2018, als Auroville offiziell sein 50-jähriges Bestehen feierte. Was als symbolischer Moment gedacht war, entpuppte sich als Wendepunkt: Die Regierung begann, ihre Einflüsse stärker durchzusetzen, und setzte sich zunehmend in die Verwaltung der Stadt ein. Ein Jahr später wurde Jayanti Ravi als Sekretärin der Auroville-Stiftung ernannt. Ihre Amtsführung und die politischen Entscheidungen, die sie traf, verstärkten die Spannungen. Viele Bewohner beklagen, dass sie sich mit einer autoritären Politik konfrontiert sahen, die ihren ursprünglichen demokratischen und gemeinschaftlichen Ansatz in Frage stellt.
Die Spannungen verschärften sich weiter, als die Regierung 2021 beschloss, mit schwerem Gerät eine Schneise in den Wald zu schlagen, um Platz für den Ausbau der Infrastruktur zu schaffen. Der Widerstand der Aurovillianer war massiv. Sie protestierten gegen die Zerstörung des Waldes, der über Jahre hinweg von der Gemeinschaft mühsam wiederhergestellt worden war. Die Auseinandersetzungen nahmen zu, als immer mehr Bewohner mit Repressionen und Einschüchterungen durch die Behörden konfrontiert wurden.
Der Konflikt hat nicht nur politische Dimensionen, sondern auch tiefgreifende soziale und kulturelle Auswirkungen. Auroville wurde als experimentelle Gemeinschaft ins Leben gerufen, in der das individuelle und kollektive spirituelle Wachstum im Vordergrund stehen sollten. Heute jedoch fühlen sich viele Einwohner von der Regierung und ihren Methoden entfremdet. Besonders die ausländischen Einwohner – etwa 50 Prozent der rund 3.300 Bewohner – sehen sich durch die Einmischung der indischen Behörden in ihrer Existenz bedroht. Viele von ihnen, darunter auch die langjährigen Bewohner, warten seit Jahren auf die Verlängerung ihrer Visa, was für sie existenzielle Unsicherheit bedeutet.
Gleichzeitig stellen sich die Fragen nach der Zukunft Aurovilles. Kann die Stadt sich weiterentwickeln, ohne ihre ursprüngliche Vision zu opfern? Einige Bewohner glauben, dass Auroville sich der Außenwelt öffnen muss, um zu überleben und sich nicht von Landkäufen und wirtschaftlichen Interessen anderer Akteure überrollen zu lassen. Andere hingegen betonen, dass Auroville nicht nur ein physischer Raum, sondern ein geistiges Experiment ist, das den Fokus auf das spirituelle Wachstum der Gemeinschaft legen sollte. Sie fürchten, dass der politische Druck und die zunehmende Kommerzialisierung die Essenz dessen, was Auroville ausmachte, zerstören könnte.
Es bleibt abzuwarten, wie es mit Auroville weitergeht. Während einige die Hoffnung hegen, dass sich der Konflikt bald legen wird, ist die Situation nach wie vor angespannt. Es gibt keine klare Lösung, und die Gemeinschaft bleibt gespalten. Inmitten dieser Unsicherheit bleibt Auroville jedoch ein Symbol für das Streben nach einer besseren, spirituellen und gemeinschaftlichen Zukunft – ein Traum, der, auch wenn er nicht perfekt umgesetzt wurde, weiterhin von denen getragen wird, die an die Vision glauben. Doch der Weg bleibt steinig, und es ist ungewiss, wie lange dieses Experiment noch fortgeführt werden kann.
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