Wenn man an die indische Filmindustrie der späten 90er Jahre denkt, ist Dil Se… (1998) ein Werk, das sich nicht nur durch seine ikonische Musik von A.R. Rahman, sondern auch durch seine subversive Erzählweise hervorgetan hat. Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach seiner Veröffentlichung, hat der Film den Status eines Klassikers erreicht, doch damals war seine Wirkung alles andere als sicher. Die Kombination aus Politik, Musik und Romantik, gepaart mit einem mutigen Schritt von Bollywood-Superstar Shah Rukh Khan, hatte 1998 weit weniger Zustimmung als erwartet.
Dil Se… war für Khan ein kalkuliertes Risiko, das seine etablierte Heldendarstellung auf den Kopf stellte. Der Film handelt von Amarkant Varma (Shah Rukh Khan), einem Radio-DJ von All India Radio, der in Leh, Kashmir, auf der Suche nach den politischen Ansichten der indischen Bevölkerung inmitten der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag ist. Dort trifft er auf Meghna (Manisha Koirala), eine geheimnisvolle junge Frau mit politischen Zielen, die sich als Mitglied einer separatistischen Gruppe entpuppt. Ihre romantische Beziehung ist von Anfang an von politischen Spannungen und einem moralischen Dilemma durchzogen, das Khan in eine Rolle zwingt, die über die üblichen romantischen Helden hinausgeht.
Khan, der schon zu dieser Zeit der unangefochtene König des indischen Kinos war, spielte hier nicht den üblichen strahlenden Held, sondern einen von Zweifeln geplagten Mann, der sich in einen gefährlichen Strudel aus Liebe und Politik begibt. In vielen seiner vorherigen Filme, wie Dilwale Dulhania Le Jayenge (1995) oder Raju Ban Gaya Gentleman (1992), hatte Khan als unerschütterlicher Romantiker überzeugt. Doch in Dil Se… wurde sein Charakter durch die politische Dimension und die Konfrontation mit Meghnas tragischem Schicksal auf eine harte Probe gestellt.
Manisha Koirala, die in den 90ern als respektierte Schauspielerin galt, aber nicht den Superstar-Status von Kajol erreichte, brachte eine völlig andere Energie in ihre Rolle als Meghna. Sie spielt eine Frau, die sich zwischen politischem Widerstand und persönlicher Liebe hin- und hergerissen fühlt. Ihre Performance ist eine fein austarierte Mischung aus Zurückhaltung und Selbstbewusstsein, die die Ambivalenz ihres Charakters widerspiegelt. Wenn Amarkant sie in einer verlassenen Bahnhofsnacht zum ersten Mal trifft, wird ihre Beziehung von Misstrauen und geheimen Zielen geprägt – und doch entsteht eine tiefgreifende Bindung zwischen den beiden, die sowohl physisch als auch emotional gefährlich ist.
Die Musik von A.R. Rahman ist das Herzstück des Films. Jeder Song ist nicht nur ein musikalisches Meisterwerk, sondern auch ein Ausdruck der inneren Welt der Charaktere. Besonders hervorzuheben ist der Song Chaiyya Chaiyya, der eine ekstatische Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit verkörpert und in der legendären Szene auf einem fahrenden Zug in den indischen Himmel projiziert wird. Aber auch andere Stücke wie Satrangi Re und Dil Se Re tragen zur emotionalen Tiefe des Films bei, indem sie Rahmans Fähigkeit zeigen, Musik als Erweiterung der Filmästhetik zu verwenden.
Der visuelle Stil von Mani Ratnam, der für seine Liebe zum Detail und seine künstlerische Bildsprache bekannt ist, fängt die politische Dringlichkeit der Geschichte ein, ohne auf die Schönheit der Umgebung zu verzichten. Die Kulissen in Assam und Leh, die oft als Schauplätze für Bollywood-Klassiker dienten, verleihen dem Film eine unverwechselbare Atmosphäre. Doch der politische Hintergrund, der die gesamte Handlung bestimmt, ist nicht nur ein dekoratives Element. Der Film thematisiert die Konflikte im nordöstlichen Indien, die von Unabhängigkeitsbewegungen und religiösen Spannungen geprägt sind, und zieht eine direkte Verbindung zwischen diesen politischen Kämpfen und der persönlichen Geschichte der Protagonisten.
Was Dil Se… von vielen anderen Bollywood-Filmen unterscheidet, ist das offene Ende, das Khan’s Charakter in einem Akt der Selbstaufopferung sterben lässt. Dies war ein völliger Bruch mit der üblichen Bollywood-Formel, bei der der Held immer als Sieger hervorging. Die Tatsache, dass Amarkant, der unschuldige und hoffnungsvolle Protagonist, für seine Liebe und seine politischen Ideale mit dem Leben bezahlt, war eine mutige Entscheidung und eine, die das Publikum 1998 zutiefst verstörte. Viele Zuschauer konnten nicht fassen, dass Shah Rukh Khan, der Inbegriff des Bollywood-Helden, in einem Film sterben sollte. In den darauffolgenden Jahren hat jedoch eine neue Generation von Filmemachern, die bereit waren, Grenzen zu überschreiten, diese Entscheidung als eine der größten Stärken des Films erkannt.
Heute, mehr als 25 Jahre nach seiner Veröffentlichung, wird Dil Se… nicht nur als politisches Meisterwerk, sondern auch als ein Film gefeiert, der es gewagt hat, mit der Erwartungen seiner Zuschauer zu spielen. Ratnam stellte eine Urbanität und einen Fortschrittsglauben, vertreten durch Amarkant, der an eine bessere Zukunft für Indien glaubte, einer ländlichen und indigenen Welt gegenüber, die von Armut und politischen Kämpfen geprägt war, dargestellt durch Meghna. Diese Kluft und die tragische Romantik zwischen den beiden Charakteren setzen ein starkes, politisches und emotionales Statement, das den Film in die Annalen der Bollywood-Geschichte aufgenommen hat.
Dil Se… ist mehr als nur ein romantischer Thriller; er ist ein Film, der sich mit den politischen und sozialen Herausforderungen seiner Zeit auseinandersetzt, ohne die emotionalen Bedürfnisse seiner Charaktere zu opfern. Der Film hat die Grenzen des Mainstream-Kinos verschoben und ist heute nicht nur ein Klassiker der 90er Jahre, sondern ein fester Bestandteil der Filmgeschichte Indiens.