Die Section 377 wird tatsächlich nur selten benutzt, um Menschen vor Gericht zu stellen. Allerdings gab es Anfang Januar einen spektakulären Fall in Lucknow, bei dem vier Schwule festgenommen wurden. Das größere Problem ist aber, dass dieses Gesetz zusammen mit der generellen gesellschaftlichen Ablehnung von Homosexuellen, das Leben für sie sehr schwer macht. Immer wieder werden sie auf das Gesetz hingewiesen und ihnen weiß gemacht, dass sie nicht nur gegen das Gesetz verstoßen sondern auch „unnatürlich“ sind. Familien sperren ihre Kinder ein, zwingen sie zu einer heterosexuellen Ehe oder setzen sie einer psychiatrischen Zwangstherapie aus. Viele Menschen, und auch Ärzte, in Indien glauben, dass Homosexualität eine Krankheit ist, die man heilen kann. Daher werden viele „Kranke“ unter Medikamente gesetzt und bekommen Elektroschocktherapien, auch über Jahre hinweg. Polizisten machen immer wieder Razzien, erpressen, bedrohen, misshandeln und vergewaltigen insbesondere Schwule und Transsexuelle. Körperliche und psychische Gewalt gegen Homosexuelle und andere, die von der sexuellen Norm abweichen, sind in Indien traurige Normalität.
Dabei lässt sich Homosexualität im Verborgenen relativ gut leben. Noch immer gibt es eine starke Trennung von Männern und Frauen nicht nur in der Öffentlichkeit sondern auch im privaten Bereich. Während ein Mann und eine Frau keine öffentlichen Zärtlichkeiten austauschen dürfen, ist es normal wenn Männer Händchen haltend durch die Straßen gehen oder Frauen zusammensitzen. Es gibt also Möglichkeiten gleichgeschlechtliche Liebe zu leben, solange sie nicht zu offensichtlich wird. Und man muss sich an die Normen halten. Wer nicht heiraten will, fällt auf und bekommt Ärger. Der Mann, der lange Haare hat und sich feminin gibt, fällt genauso negativ auf wie die Frau mit kurzen Haaren und Männerkleidung. Wer zu seinem Anderssein stehen will, fällt auf, und bekommt die ganze Ablehnung der Gesellschaft und meist auch der eigenen Familie zu spüren. Die Kraft dafür haben nur wenige, viele entscheiden sich daher für ein heimliches Doppelleben.
Abweichungen von der Normalität haben ihren Platz nur am Rande der Gesellschaft. So sind etwa die Hijras eine eigene Community. Hijras sind Menschen, die entweder mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, oder Männer, die als Frauen leben. In der indischen Gesellschaft haben sie ihre eigene Rolle, sie kommen zu Hochzeiten und Geburten, singen und tanzen dort. Sie haben ihre Aufgaben in den Ritualen, ihnen wird Geld gegeben, geachtet werden sie aber nicht.
In den letzten zehn Jahren haben sich viele Organisationen gegründet, die sich für die Rechte von Homosexuellen und anderen, die von der sexuellen Norm abweichen, einsetzen. In ihrer Arbeit sprechen sie allerdings selten von Homosexualität. Viele benutzen Bezeichnungen wie msm (‚men having sex with men‘), ‚women attracted to women‘ oder ’same sex desiring‘. Damit sprechen sie nur das sexuelle Verhalten an und unterstellen keine fest geschriebene (sexuelle) Identität. Ein anderer Begriff, der benutzt wird ist „queer“. „Queer“ nennen sich jene, die sich nicht der sexuellen Norm unterwerfen wollen oder können. Neben Homo-, Bi- und Transexuellen sind dies, zum Beispiel, auch Heterosexuelle, die nicht heiraten wollen. Ein Auslöser für die Entstehung der queeren Bewegung war Ende der 1990er die Auseinandersetzung um den Film „Fire“ von Deepa Metha. In ihm geht es auch um eine lesbische Beziehung. Die Hindu-Nationalisten hielten dies für „unindisch“, verbreiteten Terror und griffen Kinos an. Das wollten sich Schwule und Lesben nicht länger bieten lassen, und fingen an, öffentlich für ihre Rechte einzutreten. Eines ihrer Ziele ist die Abschaffung der Section 377 als ein erster Schritt zur Gleichberechtigung.
Mehr über Queerness und indische Tradition, über die Diskriminierungen Homosexueller, über die queere Bewegung, persönliche Porträts und Geschichten und vieles mehr gibt es im Schwerpunkt „Queer South Asia“ auf den Seiten unseres Kooperationspartner suedasien.info
http://www.suedasien.net/themen/schwerpunkt0601_queer/editorial.htm
Übrigens: Auch in Deutschland gab es bis vor kurzem ein ähnliches Gesetz wie die Section 377. Der Paragraph 175 des Deutschen Strafgesetzbuches, der aus der Kaiserzeit stammt und während der Nazizeit noch verschärft wurde, galt bis 1969 und in abgemilderter Form sogar bis 1994.