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Fr, 22. November, 2024
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Indische Waisenkinder: Zwischen zwei Welten

Eigentlich müsste der mittlerweile 24-jährige Aditya Markus Fassbender ein rundherum zufriedener Mensch sein, zumindest im Vergleich zu den anderen indischen Waisenkindern, mit denen er vor 20 Jahren bis zu seinem dritten Lebensjahr aufwuchs, und die wahrscheinlich auch nicht das „Glück“ hatten, unter besseren Lebensbedingungen aufzuwachsen. Nur auf dem Weg zu seiner persönlichen Identifikation hat Aditya Markus auch heute noch öfters Schwierigkeiten.
Mit drei Jahren wurde Aditya nämlich von einem deutschen Ehepaar adoptiert, das aus biologischen Gründen keine Kinder bekommen konnte. Nachdem sie sich an die „Andheri Kinderhilfsstiftung“ in Mumbai (Bombay) wandten, flogen sie nach Indien und adoptierten dort einen Sohn.
Seine leiblichen Eltern lernte Aditya nie kennen. Er wurde damals als Säugling vor der Tür eines indischen Weisenhauses gefunden, weil seine Eltern offensichtlich zu arm waren, um ihrem Sohn eine gesicherte Zukunft zu bieten. Ein Schicksal, das in Indien hunderttausende Kinder teilen.
Aditya wuchs die ersten paar Jahre unter guten Familienverhältnissen auf. Sein promovierter Adoptivvater ist in der Politik tätig gewesen und seine Mutter war eine gelernte Schneiderin, die sich nach der Adoption jedoch um Kinder und Haushalt kümmerte.
Als Aditya sechs Jahre war, kam es zur Trennung seiner Eltern. Sein Vater zog aus, und ließ seine frühere Frau mit zwei weiteren Adoptivkindern alleine zurück. Nach einiger zeit kam es so weit, dass die Mutter immer öfters Alkohol konsumierte und Haus und Kinder vernachlässigte. Falls der Mutter widersprochen wurde, wurde sie gewalttätig und sagte Sätze wie: „Typisch indisch.“ Die darauffolgenden Jahre wurden für Aditya immer schwerer. Obwohl das Jugendamt oft vorbeikam, änderte sich kaum was. Mit elf Jahren zog Aditya schließlich zum Vater, der allerdings zu spät vom Alkoholismus seiner Ex-Frau erfuhr, wie es ihm Aditya vorwarf. Nach und nach zogen auch die zwei weiteren Kinder zu ihrem Adoptivvater.
Als Aditya 15 war, starb seine Mutter schließlich an einem Gehirntumor, nun hatte er auch seine zweite Mutter verloren. Allerdings fiel es ihm schwer seinem Vater zu sagen, ob er die Mutter liebte oder nicht.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Aditya noch nicht viel mit seiner indischen Vergangenheit auseinandergesetzt. Sehr wohl hatte er des öfteren von Bekannten und Lehrern hören müssen, wie gut er es in Deutschland habe, und wie sehr die armen Menschen in Indien doch hungern müssten und dass dort nicht einmal die Hälfte der Menschen lesen und schreiben könnten. Alle sagten nur, was für ein Glück er gehabt hat, niemand dachte darüber danach, was er eigentlich alles verloren hatte. Nach einigen Jahren wurde Aditya das jedoch selbst immer bewusster.
Mit 16 flog er aus beruflichen Gründen mit seinem Vater und seinen Geschwistern nach Vietnam. Über dem indischen Luftraum dachte er, wie es wohl da unten wirklich aussehen möge. Er stellte sich immer wieder die gleiche Frage: Ist Indien wirklich das verarmte Land, von dem man ihm immer zu erzählen vermochte? In Vietnam sah er dann zum ersten Mal indisches Fernsehen. Ihm fiel sofort auf, dass die Leute immerzu tanzen und dass es in den Filmen immer um Liebe und Mord ging. Die indischen Programme erschienen ihm manchmal eintönig und langweilig, aber auch irgendwie lebhaft und interessant. Es kam oft vor, dass Vietnamesen ihn fragten, was die Schauspieler sängen, aber Aditya verstand es ja selbst nicht mal, dies wiederum verstanden die Vietnamesen nicht so ganz. In Vietnam besuchte Aditya eine französische Schule. Dort waren er und sein Bruder die einzigen Deutschen mit indischer Abstammung und zudem Schüler einer französischen Schule in Vietnam.
Wenn ihn die neugierigen Vietnamesen fragten, woher er denn komme, stutzte Aditya, denn er wusste nie so recht, ob er Deutschland oder Indien sagen sollte…
Je älter er wurde, umso mehr beschäftige ihn seine eigentliche indische Herkunft. Er fühlte sich deutsch, weil er die indische bzw. asiatische Kultur nie richtig kennengelernt hatte. Aber die Sehnsucht nach Indien wurde immer stärker. Nach vier Jahren in Vietnam kehrte er nach Deutschland zurück. Hier beschäftigte er sich mit Indien viel intensiver, kaufte sich diverse Reiseführer und Bücher über sein „Heimatland.“ Es kam oft vor, dass Inder ihn auf der Strasse ansprachen, aber er sie leider nie verstand. Der eine mit ratlosem, der andere mit fassunglosem Blick.
Die Leute fragten ihn oft, warum er denn Markus Fassbender hieße, aber dennoch südländisch aussehe, und warum denn kein Interesse bestünde seine leiblichen Eltern zu suchen. Aditya Markus erklärte es ihnen oft, aber mit der Zeit verging ihm jedoch die Lust dazu.
Er fühlte sich zunehmends zwischen 2 Welten aufgeteilt. Die eine Welt, die ihm sehr wohl bekannt war, und die anderen Welt, die ihm immer noch fremd und dennoch mehr und mehr zugeneigt erschien.
Öfters sah er im Fernsehen Neonazi-Aufmärsche. Sie trugen Plakate mit der Aufschrift: „Ich Deutscher, ich nix verstehen“, oder: „Deutscher kann nur sein, wer deutsche Eltern hat.“ Beim letzten Satz kam Aditya sehr oft ins Grübeln. Irgendwann hörte er die Wahlkampfparole: „Kinder statt Inder“, und er fragte sich, wie so ein hochentwickeltes Deutschland nur Angst vor einem armen Entwicklungsland wie Indien haben kann. Er dachte oft darüber nach, dass Deutschland vielleicht sich selbst in technischen Angelegenheiten überschätzt hatte und es womöglich nicht ertrug, dass auch arme Länder bedeutende Leistungen im IT-Bereich hervorbrachten.
Immer wieder ging Aditya durch den Kopf, ob er wirklich so ein schlechtes Leben in Indien hätte, wenn er dort aufgewachsen wäre. Er erinnerte sich häufiger an Vietnam und an die Menschen, die trotz ihrer Armut glücklich waren. Lieber adoptiert als arm oder tot sagten ihm vor allem seine Großeltern immer wieder (und wollten, dass er die Fotos von dem Waisenhaus in Bombay, auf dem er kärglich gekleidet war, zur Erinnerung aufbewahrte). Es gab aber Momente im Leben, als Aditya ganz anders darüber dachte.
Sicher ist: Aditya würde heute nicht seine eigene 60 qm große Wohnung haben; er hätte kein Auto und keinen Computer. Im Waisenhaus in Bombay hätte er sein Zimmer mit vielen anderen Kindern teilen müssen. Kein Kühlschrank voller Leckereien hätte ihm offen gestanden. Er hätte Reisbrei essen müssen. Sollte er jemals dorthin zurückkehren, wo sein Leben seinen Anfang genommen hatte, würde er vermutlich glücklich sein, dass er den Lebensmanipulationen seiner „Wohltäter“ eine einigermaßen gesicherte Zukunft verdankt, von denen andere Waisenkinder nicht einmal zu träumen wagen. Doch sollte er auf der Suche nach dem Leben, das auch seines hätte sein können, eines Tages nach Indien zurückkehren, wird er wohl kaum glücklich sein, die Menschen in dem Land, in dem er geboren wurde und die Kultur nicht zu verstehen.
Auch die 2 Jährige Bindra aus Adityas Nachbarort wurde vor ein paar Monaten von deutschen Eltern adoptiert. „Bindra ist ein Lottogewinn für uns“, sagt ihre Adoptivmutter, „aber wir sind auch ein Lottogewinn für das Kind.“

Irgendwann wird Bindra selber entscheiden.

Foto: (c) clipdealer.com (Media-ID: 912933)

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