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Mi, 27. November, 2024
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Indiens Suche nach neuen Vorbildern

Der große französische Schriftsteller Romain Rolland hat einmal geschrieben: „Wenn es einen Ort gibt, wo alle Träume seit den Tagen da der Mensch zu träumen begann, eine Heimat gefunden haben, dann ist es Indien. Das gilt auch für die Alpträume.“
Der 1866 geborene Schriftsteller kannte Indien aus einer Zeit, in der indische Fürsten Erben uralter Dynastien waren, viele aber auch Emporkömmlinge von britischen Gnaden eingesetzt, um den Kolonialherren das Regieren zu erleichtern. Er lernte ein Indien mit unbeschreiblicher Schönheit kennen, aber auch ein Indien in dem die Verbrennung von Frauen nach dem Ableben des Ehemannes an der Tagesordnung stand.
Das heutige Indien hat seine Träumer nicht verloren. Der Alptraum Indien ist jedoch nach wie vor gut erkennbar geblieben, auch wenn es nicht nicht mehr das alte Klischee des Frauenverbrennens wiederspiegelt. Schuld an dem heutigen Alptraum Indien sind Überbevölkerung, Erdbeben, Flut sowie Dürrekatastrophen. Aber auch Nehrus sowie Indira Gandhis Sozialismus verhinderten den Erfolg.
Seit der wirtschaftlichen Öffnung 1991 hat Indien bahnbrechende Umwälzungen hinter sich. Die Gurus des Cyberspace revolutionieren die gesamte indische Wirtschaft und sind dabei, dem rückständigen Land am Ganges in der Welt ein anderes Image zu verschaffen. Dachte man noch vor wenigen Jahren beim Worte „Indien“ an heilige Kühe, Mutter Theresa und halbnackte Fakire, so bringt man das Wort „Indien“ heute mit Computertechnologie und weltbesten Software-Ingenieuren in Verbindung: weg vom Spinnrad, hin zur Software – Bill Gates statt Mahatma Gandhi.
Indiens junge Elite aber träumt eher von Erfolgsunternehmern wie dem 55-jährigen Azim Premji (s. links) und dem 54-jährigen N.R. Narayana Murthy (s. rechts). Die High-Tech-Firmen dieser beiden Software-Experten im südindischen Bangalore gehören zur Weltspitze und haben an der Börse trotz mittlerweile dramatischem Kurseinbruch atemberaubende Gewinne erzielt. Azim Premji, Chef der Wipro Corporation, war nach Berechnung der Zeitung „Business Standard“ im Sommer 2000 vorübergehend zum drittreichsten Mann der Welt geworden.
Was macht so einer wie er mit seinem sagenhaften Reichtum in diesem Indien, in dem immer noch 35 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, in dem 60 Prozent der Haushalte keine Elektrizität haben, in dem nur knapp jeder zweite lesen und schreiben kann?
Seine an Geiz grenzende Genügsamkeit ist in der Geschäftswelt sprichwörtlich: der Milliardär fliegt nur Economy und besteht darauf, in Mittelklassehotels abzusteigen. „Gegenwert fürs Geld“, lautet sein erster Leitspruch. Sein zweiter Grundsatz: „Indische Unternehmer müssen Vorbilder sein, sie dürfen nicht in Luxusgefilde abheben. Nur dann hat der Kapitalismus nach all den Jahren sozialistischer Experimente in Indien eine Chance, als Modell zur Verbesserung der Lebensumstände akzeptiert zu werden.“
Nachdem IBM 1977 aus politischen Gründen von der Regierung in Neu Delhi des Landes verwiesen wurde, entstand eine Marktlücke, die Premji und Murthy füllen wollten. Die ersten Jahre waren hart. In den 80ern herrschte in Indien noch Planwirtschaft: die Regierung regulierte, kontrollierte und unterdrückte Eigeninitiative. Die Bürokratie in Delhi warf den Pionieren Knüppel in den Weg, wo sie nur konnte. Der Durchbruch kam 1991, als die Regierung, teils aus Einsicht und vor allem weil der Staat kurz vor dem Konkurs stand, die Wirtschaft liberalisierte. Plötzlich strömten Multis ins Land – Mumbais Börse boomte. Viele indische Industrielle riefen nach staatlichem Schutz vor der neuen Konkurrenz. Nicht so die Chefs von Wipro und Infosys. Sie waren inzwischen selbstbewusst genug, es mit den Ausländern aufzunehmen. Für sie überwogen die Vorteile der ökonomischen Öffnung. Sie konnten jetzt frei reisen, die neueste Technologie importieren – und weiterentwickeln.
Bangalore, vor 15 Jahren 2,5 Millionen Einwohner, heute über 5 Millionen, Zweigstelle vieler Multis und Heimstätte von 70 Fachhochschulen, hat sich dramatisch verändert – zum Guten wie zum Schlechten. Die Infrastruktur ist dem Ansturm der immer neuen Autos einer wachsenden Mittelschicht kaum mehr gewachsen. Im Technologiepark 20 Kilometer weiter draußen klappt alles, aber in der Innenstadt gibt es zu wenig Telefonverbindungen, auch schon mal Stromausfälle.
Premji glaubt, dass der Informationstechnologie die Zukunft gehört, spricht von „beispiellosem Wohlstand“ für Indien. Aber ist er da nicht etwas zu optimistisch? Ist das Softwaregeschäft nicht nur eine kleine Enklave in Indiens Wirtschaft, eine einzige Insel der Seeligen, die trotz Wachstumsraten von rund 50 Prozent im Jahr erst 1,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes ausmacht – immer abhängig von der Nachfrage des Auslands und nicht gerade arbeitsplatzintensive Branche?r haben jetzt die Pflicht, Indien etwas zurückzugeben“, sagt der reichste Mann Indiens und fügt hinzu, dass „Fortschritt irgendwo beginnen muss“. Nur so geht es langfristig voran.
Foto: von Unbekannt – https://www.flickr.com/photos/55638925@N00/255569844/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2369294

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