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Do, 17. Oktober, 2024
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„Agantuk“: Satyajit Rays meisterhaftes Finale

„Agantuk“ – auf Deutsch „Der Fremde“ – ist das letzte Werk des legendären indischen Regisseurs Satyajit Ray und schlichtweg ein beeindruckendes Finale seiner Karriere. Der Film, 1992 kurz vor Rays Tod fertiggestellt, wurde zunächst hauptsächlich auf Filmfestivals gezeigt. Dass es drei Jahre gedauert hat, bis dieser bemerkenswerte Film regulär in den Kinos lief, ist nahezu unverständlich.

Rays späte Filme, darunter auch die Ibsen-Adaption „Enemy of the People“ und „The Branches of the Tree“, zeichnen sich durch eine eindrucksvolle Einfachheit und Direktheit aus. Aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme drehte Ray in seinen letzten Jahren überwiegend in Studios und vermied aufwändige Außendrehs. So hieß es, dass am Set von „Agantuk“ immer ein Krankenwagen und ein Ärzteteam bereitstanden, während sein Sohn Sandip Ray, ebenfalls Regisseur, unterstützend zur Seite stand.

Doch auch wenn „Agantuk“ mit minimalen Mitteln produziert wurde, bleibt es die Arbeit eines Meisters. Einige Regisseure – wie Luis Buñuel oder Akira Kurosawa – entwickelten im Alter eine technische Simplizität, die eine tiefere Essenz ihrer Sicht auf das Leben offenbarte. Ray schuf mit „Agantuk“ eine solche stilistische Reduktion, die die wesentlichen Strukturen des Dramas enthüllt und sich auf das Wesentliche konzentriert.

Diese Einfachheit scheint weniger eine Notwendigkeit durch seine physische Verfassung zu sein, als vielmehr eine natürliche Entwicklung seiner Kunst. Rays beste Filme waren immer Fabeln – Geschichten, in denen die Charaktere gleichzeitig einzigartig und archetypisch wirken. „Agantuk“ verzichtet auf unnötige Komplexität, ohne dabei banal zu werden. Der Film spielt fast ausschließlich in Innenräumen und ist im Wesentlichen eine Serie von Dialogen – dennoch vermittelt er ein Gefühl von Weite, indem er die inneren Welten seiner Figuren erkundet.

Die Handlung ist eine Mischung aus psychologischem Thriller und modernem Märchen. Anila (Mamata Shankar) und ihr Ehemann Sudhindra (Deepankar De), ein mittelständiges Ehepaar aus Kalkutta, werden unerwartet von einem Mann namens Manmohan Mitra (Utpal Dutt) besucht, der behauptet, Anilas verschollener Onkel zu sein, den sie seit 35 Jahren nicht gesehen hat. Er möchte nur ein paar Tage bleiben, und im Geiste der traditionellen indischen Gastfreundschaft stimmen Anila und Sudhindra zu – wenn auch mit Vorbehalten.

Die zentrale Frage des Films bleibt lange ungeklärt: Ist Manmohan wirklich Anilas Onkel? Ray spielt geschickt mit den Erwartungen des Publikums und lässt uns immer wieder zweifeln. Doch im Kern geht es in „Agantuk“ weniger um Manmohans wahre Identität, als vielmehr darum, was seine Anwesenheit bei den anderen Figuren auslöst. Manmohan, der von seinen Reisen und dem Leben bei indigenen Stämmen erzählt, konfrontiert seine Gastgeber subtil mit ihren eigenen Ängsten und Unsicherheiten.

Besonders der junge Satyaki (Bikram Bhattacharya), Anilas und Sudhindras 11-jähriger Sohn, ist von Manmohan sofort fasziniert. Für ihn ist die Vorstellung, dass dieser geheimnisvolle Abenteurer vielleicht nicht wirklich sein Onkel ist, ein aufregendes Spiel. Sudhindra hingegen versucht, Manmohans Glaubwürdigkeit zu testen und lädt Freunde ein, um den Gast herauszufordern. Ein rationaler Anwalt (Dhritiman Chatterjee) nutzt die Gelegenheit, um Manmohans spirituelle Ansichten zu kritisieren und dessen „unzivilisierte“ Lebensweise zu hinterfragen.

Für Manmohan ist die moderne Zivilisation jedoch voller Unzufriedenheiten. Seine Entscheidung, eine vielversprechende Karriere zugunsten eines nomadischen Lebens aufzugeben, ist Ausdruck seines tiefen Glaubens an die Einfachheit und Authentizität. Trotz seiner offensichtlichen Erschöpfung strahlt er eine innere Zufriedenheit aus, die allen anderen Figuren im Film fehlt. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Anila so sehr an ihm festhalten möchte. Sie hofft, dass seine Lebensweise Antworten auf die Fragen in ihrem eigenen Leben liefern könnte. In einer der schönsten Szenen des Films sehen wir Anila in einem ekstatischen Stammes-Tanz aufgehen, der ihre verborgene Sehnsucht zum Vorschein bringt.

Es mag riskant sein, den letzten Film eines Regisseurs als Schwanengesang zu bezeichnen, aber Ray muss gespürt haben, dass „Agantuk“ sein Abschiedswerk sein würde. Der Film trägt diese Endgültigkeit jedoch mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit. Ich habe den Film mit Sicherheit vier oder fünf Male gesehen: Ray hinterlässt mit „Agantuk“ ein ruhiges, nachdenkliches und zugleich freudvolles Werk, das die großen Fragen der Identität, der Menschlichkeit und des Lebens selbst auf elegante und zeitlose Weise reflektiert. Ein würdiger Abschluss für einen der größten Filmemacher der Welt, den selbst der US-amerikanische Regisseur Martin Scorsese als sein Vorbild bezeichnete.

Nina Rao
Nina Rao
Nina studiert an der TU Dortmund und interessiert sich für den indischen Film. Gut gemachte Bollywoodfilme haben es ihr besonders angetan. Seit 2024 schreibt sie für theinder.net hauptsächlich Bollywood-Filmkritiken, die sie in deutschsprachigen Medien immer noch für unterrepräsentiert hält...

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